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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Verleumdungen auflehnen, wenn es schon jüngeren und klügeren Frauen nicht gelang?
    Die Stimmen derer, die vielleicht Verständnis für eine junge Witwe aufbrachten, die sich nicht verbrennen lassen wollte, waren verstummt. Niemand wagte es, sich der Gefahr gesellschaftlicher Ächtung auszusetzen, indem er Partei für diese Inkarnation des Bösen ergriff. Aber Bhavani erkannte in den Augen mancher Frauen, dass sie das Gerede für Unsinn hielten.
    Denn wahr an alldem war einzig, dass Bhavani einiges, was sie für die Flucht brauchten, mitgenommen hatte – und zwar nur Dinge, die im Grunde ihr gehörten. War es etwa Diebstahl, wenn sie den Diamanten ihrer Mutter mitnahm oder den Brautschmuck, den die Maharani ihr damals geschenkt hatte? Was war unrecht daran, das Hochzeitsgeschenk von Vijay, einen wunderschönen, juwelenbesetzten Säbel, mitzunehmen? Vijay hatte ihn für Arun und sie ausgesucht, für sonst niemanden. Am allerwenigsten für ihre Schwäger und Schwägerinnen, die ja ohnehin die meisten von Bhavanis Sachen behielten: die Seidenteppiche und Jacarandamöbel, die Silberkannen und Goldkästchen, die Elfenbeintafeln und die perlengesäumten Gewänder.
    Ach, ihr Bruder! Wie würde er die Neuigkeit aufnehmen? Sie war ihm zuletzt vor drei Jahren begegnet, als er, gerade
18
-jährig, geheiratet hatte. Er hatte sehr gut ausgesehen, noch immer kräftig, aber nicht mehr so krankhaft fettleibig. Seine Augen hatten vor Freude gefunkelt, und bei seinem Lächeln war Bhavani dahingeschmolzen. Dieses würde ihm nun sicher vergehen. Seine Schwester hatte Schande über die Familie gebracht. Obwohl Vijay sich wahrscheinlich darüber freuen würde, dass sie noch lebte, würde er doch auch gleichzeitig auf seine tiefverwurzelten traditionellen Überzeugungen hören und sich von ihr lossagen.
    Zu ihm konnten sie und Nayana sich also keinesfalls retten. Bestimmt würden ihre Schwäger dort zuerst nach ihnen Ausschau halten. Denn dass Aruns Brüder sie verfolgten, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Sie hatten eine hohe Belohnung auf Bhavanis Ergreifung ausgesetzt. In allen Dörfern und Städten, durch die die beiden Flüchtigen kamen, wurde vom Nachrichtenausrufer eine Beschreibung der diebischen Witwe bekanntgegeben, und besonders betont wurde dabei Bhavanis außergewöhnliche Augenfarbe. Es wurde gefährlich für sie, sich weiter unter Menschen zu zeigen.
    Bhavani änderte erneut ihren Namen. Amba nannte sie sich nun, genau wie auch Uma und Bhavani ein weiterer Name für die Göttin Parvati. Ausgerechnet!, dachte Amba. Parvati war die Reinkarnation von Sati, jener aufopferungsvollen Witwe Shivas, die auch im Tod mit ihrem Gemahl vereint sein wollte und die sowohl dem Ritual als auch den Witwen als Namenspatin gedient hatte. Amba also. Nayana dagegen behielt ihren Namen, da dieser in den Suchmeldungen niemals genannt wurde. Es hieß dort immer nur, die flüchtige junge Witwe sei in Begleitung einer alten Frau.
    Sie hatten lange hin und her überlegt, wohin sie flüchten sollten. Weiter in den Süden, wo andere hinduistische Fürsten regierten? Zurück in den Norden, in dem die moslemischen Moguln herrschten, in dem sich aber beide nach wie vor heimischer fühlten? Richtung Osten, wo sie sehr lange unterwegs sein würden, bevor sie dem Einflussbereich von Aruns Brüdern entkamen? Oder über die westlichen Ghats nach Goa, wo die europäischen Eroberer sich eines kleinen Stückes Indiens bemächtigt hatten?
    Nayana wollte »heim«, also nach Norden, doch Amba setzte sich durch: In Goa, so argumentierte sie, sei die Witwenverbrennung verboten, und darum würde man ihnen sicher Asyl gewähren. Außerdem habe sie gehört, dass portugiesische Frauen und sogar Witwen ein Recht auf eigene Besitztümer hätten. »Stell dir nur vor, Nayana«, rief sie, »wir könnten von dem leben, was uns der Diamant einbringt, und müssten nicht einmal verheimlichen, wer wir sind! Und ich bin überzeugt, dass uns Aruns Brüder dort am wenigsten vermuten. Selbst wenn: Man würde sie bestimmt nicht ungehindert ihrer schändlichen Suche nachgehen lassen.«
    Ihre Wanderschaft war von ähnlichen Missgeschicken überschattet wie diejenige, die sie Jahre zuvor gemacht hatten. Nayana war nicht mehr so gut zu Fuß, so dass sie gezwungen waren, öfter bei Bauern darum zu bitten, auf Ochsenkarren mitfahren zu dürfen. Nicht selten verlangten die Männer mit einem lüsternen Blick auf Amba eine unzumutbare »Bezahlung«. Da liefen sie dann doch lieber zu

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