Der indigoblaue Schleier
entkommen, den Sticheleien ihrer Schwestern, dem Mitleid der Verwandten. Als »spätes Mädchen« hatte sie gegolten, ha! Und dann? Es war schwerer, in der Ferne Fuß zu fassen, als Isabel geglaubt hatte. Inzwischen fehlten ihr sogar die wohlwollenden Ratschläge ihrer Mutter, etwa zu ihrer Garderobe oder ihrer Frisur, die sie als beleidigend empfunden hatte. Es war ja nicht so, dass sie noch ledig war, weil sie schlecht gekleidet oder hässlich gewesen wäre. Sie vermisste manchmal die weinerliche Art ihrer Schwester Maria Imaculada, die unverschämt herablassenden Bemerkungen ihrer nächstälteren Schwester Florinda und sogar die heiligmäßigen sanften Ermahnungen ihrer ältesten Schwester Ernestina. All das hatte sie damals wahnsinnig gemacht. Nun jedoch wollte es Isabel erscheinen, als habe sie einfach nicht zu schätzen gewusst, dass ihre Familie nur ihr Bestes im Sinn gehabt hatte. Wie hatte sie nur freiwillig die Umsorgtheit in einer Familie dieser Reise ins Ungewisse opfern können? Wie hatte sie Verwandte und Freunde so leichtfertig zurücklassen können, immer in dem festen Glauben daran, dass das, was kommen würde, auf jeden Fall besser war?
Die wenigen Menschen, die sie in Goa als Freunde bezeichnen konnte, waren jedenfalls nicht besser als ihre Freunde daheim. Da waren die Eheleute Queiroz, die sehr rührend um sie besorgt waren und die sie, während der Reise und danach, als liebenswerte Leute kennengelernt hatte – aber das ältliche Ehepaar war ganz gewiss nicht dazu geeignet, dass sie sich ihnen in Gefühlsdingen anvertraute. Da war Miguel, der mit den Gedanken immer woanders schien und dem als Mann sie ohnehin nie mit derselben Vertrautheit begegnen würde wie einer Freundin. Da waren ein paar törichte junge Frauen, die sie als Konkurrentin betrachteten und sie auch so behandelten – als ob sie je die Absicht gehabt hätte, ihnen die faden Burschen auszuspannen, um die sie sich kichernd scharten!
Und schließlich war da noch Maria Nunes Pacheco, jene Frau, die sie am Tag ihrer Ankunft in Goa um eine Auskunft gebeten hatte. Maria war vielleicht das, was einer Freundin am nächsten kam. Zumindest bestand die berechtigte Hoffnung, dass sie sich eines Tages zu einer solchen entwickeln würde. Isabel und Maria hatten, als sie einander auf einem Empfang vorgestellt wurden, spontan Sympathien für die andere entwickelt. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten entdeckt, doch eine echte Nähe hatte sich bisher nicht eingestellt.
Isabel bewunderte die selbstlose Art Marias, sich noch in hochschwangerem Zustand um die eltern- und obdachlosen Kinder zu kümmern, die die Cholera in der Hauptstadt zurückgelassen hatte. Sie hatte sich von ihr gar dazu überreden lassen, selber karitativ tätig zu werden, wobei Isabel ganz andere Beweggründe hatte als Maria. Die Mildtätigkeit war eine der wenigen Möglichkeiten, mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt zu treten, ohne sich dem Vorwurf des Ketzertums aussetzen zu müssen. Hatte Isabel sich daheim in Portugal immer allen Versuchen der Mutter widersetzt, sie zu Handlungen christlicher Nächstenliebe zu verpflichten, weil Aufopferungsbereitschaft einer jungen Dame so gut zu Gesicht stand, so tat sie dies hier in Indien gern und freiwillig. Dabei hatte sie weder den Ehrgeiz, den Ruf einer Heiligen zu erringen, noch ging es ihr um die Bedürftigen selber, was sie mit einiger Scham erfüllte. In Wahrheit diente es der Befriedigung ihrer Neugier.
Sie betrat armselige Hütten, in deren Nähe sie unter anderen Umständen sonst nie gekommen wäre. Sie unterhielt sich mit 14 -jährigen Müttern, die sich für Reinkarnationen von Lakshmi hielten, und mit alten Dockarbeitern, denen zwar alle Zähne fehlten, nicht aber der Sinn fürs Schäkern mit einer jungen hellhäutigen Schönheit. Sie traf auf alte und junge, männliche und weibliche, kluge und dumme, böse und gute Menschen, und immer wieder erstaunte es Isabel, dass die Inder sich gar nicht von den Europäern unterschieden. Außer natürlich in ihrem Aussehen, wobei sie selbst dies schon nach kurzer Zeit nicht mehr als exotisch wahrnahm. Vielmehr empfand sie ihre eigene blasse Haut, die wie verwaschen wirkenden Farben ihres Haars und ihrer Augen nicht mehr als das Maß aller Dinge, wie man es sie gelehrt hatte, sondern als unnatürlich, farb- und kraftlos und irgendwie fehl am Platz. Die Inder mit ihrem dicken schwarzen Haar, ihrer braunen Haut, den dicht bewimperten dunklen Augen und ihren auffallend weißen
Weitere Kostenlose Bücher