Der indigoblaue Schleier
hiesigen Wäldern. Es hatte sich herausgestellt, so erfuhr Isabel nach beharrlicher Nachfrage, dass die europäischen Hölzer, die man anfangs eingeführt hatte, den Witterungsverhältnissen und den Termiten nicht gewachsen waren. Also Teak statt Kastanie, Jacaranda statt Eiche.
Dasselbe traf auf die Möbel zu. Da man auf örtliche Tischler angewiesen war, zeigten einige der hier gefertigten Stühle und Bänke, Tische und Schränke deutlich die Vorliebe der Inder für üppige Ornamente, und manchmal brachten sie in all den Schnörkeln klammheimlich alte hinduistische Symbole unter – ihre kleine Art der Rebellion gegen die Eroberer. Da Polster in der feuchten Hitze nicht lange überlebten, verzichtete man hier meist auf sie. Korb- und Strohgeflecht war im Alltag praktischer und hatte zudem den Vorteil, dass man darauf nicht so schwitzte.
Aber als die herbste Enttäuschung von allen – und die größte Schmach – empfand Isabel die Tatsache, dass alle Hindutempel zerstört worden waren. Wenn die katholische Kirche schon so vehement gegen andere Glaubensrichtungen vorging und mit so unglaublichem Eifer viel mehr Gotteshäuser errichtete, als nötig waren, so hätte sie doch wenigstens die Tempel als Baudenkmäler erhalten können. Jahrhundertealte Bauten von großer architektonischer Eleganz, von denen europäische Baumeister sicher noch das eine oder andere hätten lernen können, waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Eines Tages, das nahm sie sich fest vor, würde sie den von Hindu-Fürsten beherrschten Süden und auch das Mogulreich im Norden bereisen und dort die Bauten wie auch die Menschen und ihre Sitten studieren.
Eines fernen Tages. Denn als alleinstehende Frau konnte und durfte sie nicht reisen. Sie bekam nicht einmal die nötigen Dokumente und Passierscheine, die sie dafür gebraucht hätte. Sie würde ihre Lernwilligkeit erst als Ehefrau von Miguel ausleben können – und weder sie noch er hatten es mit einer Vermählung besonders eilig. Wenn sie denn überhaupt je stattfinden sollte.
Isabel war gekränkt und erleichtert zugleich über die Behandlung, die Miguel ihr angedeihen ließ, nämlich dieselbe, die er auch einer jüngeren Schwester hätte zuteilwerden lassen. Sie hatten spontan Freundschaft füreinander empfunden, hatten viele Gemeinsamkeiten entdeckt, wie etwa einen großen Freiheitsdrang, und sie hatten viel miteinander gelacht. Isabel ertappte sich jedoch zunehmend dabei, dass sie Miguels Körper verstohlen musterte oder dass sie von einem Kuss träumte. Verliebte sie sich etwa? Das entsprach absolut nicht ihrem Plan. Doch je mehr sie ihre aufkeimenden leidenschaftlichen Gefühle unterdrückte, desto öfter sehnte sie sich nach einer Begegnung mit ihm.
Sie ging zu jedem einzelnen Ball, zu dem sie eingeladen wurde, einzig in der Hoffnung, es würde sich eine Gelegenheit ergeben, mit Miguel einen Spaziergang unter dem Sternenhimmel zu unternehmen. Sie machte sich für jeden Stadtbummel zurecht wie für einen großen Empfang, weil sie die irrwitzige Hoffnung hegte, dass Miguel ihr zufällig über den Weg lief. Sie wusste nur so ungefähr, wann er sich in der Stadt aufhielt und wann nicht; es kam nicht allzu häufig vor. In ihrem Tagebuch schließlich erging sie sich in seitenlangen Schwärmereien über Miguel, über seinen feinen Humor ebenso wie über seine Klugheit, die er unsinnigerweise zu verstecken suchte.
Vor allem aber ließ sie sich über sein Äußeres aus. Sie bekam gar nicht genug davon, seine kräftigen Hände, die behaarten Unterarme, die maskuline Gestalt, das glänzende Haar und sein kantiges Gesicht zu beschreiben. Sie wusste, wie albern dies war, und manchmal überlegte sie ernsthaft, ob sie diese Seiten nicht aus ihrem Tagebuch herausreißen sollte. Eines Tages wäre sie vielleicht eine berühmte Reiseschriftstellerin, und nach ihrem Tod würde man sämtliche Aufzeichnungen von ihr lesen – und mädchenhafte Ergüsse über einen schönen Mann gehörten nicht zu den Dingen, die Isabel mit der Nachwelt zu teilen gedachte.
Ihre Tagebücher waren ohnehin nicht für die Öffentlichkeit geschrieben. Isabel notierte zwar gewissenhaft alle Beobachtungen, die sie in Goa machte, doch in erster Linie diente ihr das Tagebuch zum Sortieren ihrer eigenen Gefühle. Seitenlang schilderte sie etwa ihr Heimweh, mit dem sie nie gerechnet hätte. Wie froh war sie gewesen, als sie das Schiff gen Indien bestiegen hatte! Wie erleichtert, der Enge der elterlichen Fürsorge zu
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