Der indigoblaue Schleier
wenn sie Kinder gehabt hätte, wäre die Bewahrung des Familienerbes sinnvoll gewesen. Aber das würde wohl kaum noch geschehen – Amba hatte sich mit ihrem Los als alleinstehende, kinderlose Frau abgefunden, ja sogar zahlreiche Vorzüge daran zu schätzen gelernt. Für wen oder für was also brauchte sie den Diamanten? In was hatte sie sich da verrannt?
Je näher der vereinbarte Zeitpunkt für den Rückkauf heranrückte, desto mehr schob Amba ihre Zweifel jedoch beiseite. Auch wenn alle logischen Argumente dagegen sprachen – ihr Gefühl sagte ihr, dass sie den Diamanten einfach haben
musste.
Ein weiterer Monsun kam und ging. Er hinterließ grüne Felder, blühende Wiesen, duftende Wälder – und brachte Bewegung in das ruhige Dasein von Amba und ihrer Ersatzfamilie. Denn im Oktober
1633
geschahen plötzlich mehrere Dinge auf einmal, die Ambas ganze geordnete Welt auf den Kopf stellten und ihren mühsam erworbenen Seelenfrieden erschütterten. Zunächst war, Jahre später als erwartet, Manohar aufgekreuzt, um sich sein Schweigen bezahlen zu lassen. Ambas Nachforschungen hatten ergeben, dass der Mann zwischenzeitlich sein Glück als Kaufmann versucht hatte, es jedoch nicht mit den Niederländern und Engländern hatte aufnehmen können, die mittlerweile die Seewege nach Europa beherrschten und von anderen als den eigenen Leuten astronomische Zölle verlangten. Dann war ein junger Portugiese aufgetaucht, der eine Saite in ihr zum Klingen brachte, wie es kein Mann zuvor vermocht hatte. Doch bevor sie sich ihrer widersprüchlichen Gefühle für Miguel Ribeiro Cruz hätte klar werden können, hatten furchtbare Beklemmungen von ihr Besitz ergriffen, die alle anderen Empfindungen verdrängten. Man verfolgte sie, so viel stand fest. Aber war es die Inquisition, die nach Beweisen für ihr vermeintliches Ketzertum suchte? Oder waren es ihre Schwäger, die noch immer die Hoffnung auf den Diamanten nicht aufgegeben hatten? Oder waren womöglich beide, ehemalige Familie und Kirche, hinter ihr her? In diesem Fall, dachte Amba, würde sie ihre Tarnung nur unter größten Anstrengungen sowie mit dem Einsatz erheblicher finanzieller Mittel aufrechterhalten können. Wenn überhaupt. Vielleicht war es an der Zeit, über eine weitere Flucht nachzudenken.
Es waren beunruhigende Monate gewesen, voller übler Vorahnungen und Ängste. Und jetzt, im Februar
1635
, schienen sich Ambas Befürchtungen allesamt zu bewahrheiten.
Der Juwelier Rujul, Senhor Rui, war von der Inquisition verhaftet worden. Wenn er redete, und das taten unter der »peinlichen Befragung« früher oder später alle, dann würden die Schwarzkutten demnächst auch hier bei ihr auftauchen und sie zum Verhör abführen. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hatte, der Folter standzuhalten. Nach allem, was sie im Laufe der Jahre über sich selbst gelernt hatte, wusste sie, dass letztlich immer ihr Überlebensinstinkt siegte. Würde sie ihre Beziehung zu Miguel geheim halten können? Oder würde sie, was wahrscheinlicher war, alles sagen, was die Inquisitoren von ihr zu hören wünschten? Ambas Knie wurden weich vor Angst.
Ungefähr zur gleichen Zeit waren ihre Häscher aus Maharashtra aufgetaucht. Wie hatte sie nur vergessen können, wie stolz und wie nachtragend Aruns Brüder waren? Die beiden ältesten waren sogar selber mit auf die Jagd gegangen, was sie nicht weiter wundern sollte. Amba erlaubte sich ein ganz kurzes Schmunzeln bei der Vorstellung, wie viele arme Frauen, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise verdächtig gemacht hatten, den Schwägern vorgeführt worden waren – und wie die erwartungsvollen Gesichter der Brüder von Mal zu Mal länger geworden waren. Sicher hatte eines Tages einer von ihnen erklärt, nun reiche es aber, man müsse eben einen oder zwei der Ihren mit auf die Suche schicken, da sie als Einzige die flüchtige
sati
identifizieren konnten.
Und schließlich: Isabel. Würde Miguel sich dem Wunsch seiner Familie fügen und die junge Portugiesin ehelichen? Amba hielt es für äußerst wahrscheinlich. Isabel hatte alles, was einer Verbindung Stabilität verleihen würde: die richtige Kastenzugehörigkeit, die richtige Hautfarbe, den richtigen Glauben. Miguel würde irgendwann zu dem Schluss kommen, dass eine Leidenschaft wie die ihre ebenso schnell erlosch, wie sie aufloderte. Was bliebe, wären nur Schwierigkeiten: Amba gehörte einer anderen Kultur an, und weder Rasse noch Religion ließen sich einfach abstreifen wie
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