Der indigoblaue Schleier
die Haut einer Schlange. Noch dazu war Amba älter als Miguel, und sie war verwitwet. Nie im Leben würde sie, wenn Miguel sich von sorgfältigen Überlegungen und nicht nur von seiner flüchtigen Verliebtheit leiten ließ, neben Isabel bestehen können. Es gab nur eine Lösung: Wenn sie ihr Gesicht wahren und sich nicht zur aussichtslosen Rivalin degradieren lassen wollte, musste sie selber Miguel den Laufpass geben – bevor er sie verließ.
Amba starrte in den Silberbecher, in dem der Rest des Masala-Chais erkaltet war. Sie würde bald ihren dreißigsten Geburtstag feiern. Andere Frauen konnten sich in diesem Alter beruhigt zurücklehnen, Stolz auf ihre schon fast erwachsenen Kinder empfinden und in Würde ergrauen. Sie wurden mit großem Respekt für ihre mit jedem Lebensjahr zunehmende Weisheit behandelt und voller Ehrfurcht von den Jüngeren um Rat gefragt. Und was hatte das Leben ihr gebracht? Nichts als den vorübergehenden Anschein von Frieden, eine kurze Ahnung vom Glück. Amba lachte stumm auf. Von Bestand war in ihrem Leben nur die Unbeständigkeit. Immerzu war sie auf der Flucht gewesen. Sie hatte sich selber zweimal neu erfunden, erst als Uma, dann als Amba. War dabei ihr innerstes Ich auf der Strecke geblieben? War die ursprüngliche Bhavani noch irgendwo unter den dicken Schichten von bitteren Erfahrungen, Wut und Angst vergraben? Und würde es ihr gelingen, sie hervorzuholen?
Ja, beschloss Amba. Sie musste es wenigstens versuchen. Die vielen Lügen und das ewige Versteckspiel mussten ein Ende nehmen. Und der erste Schritt dahin wäre, dass sie die Wahrheit sagte.
Sie stellte ihren Teebecher so abrupt auf dem Messingtischchen ab, dass der Chai herausschwappte. Sie wusste plötzlich, wem sie sich anvertrauen konnte.
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I sabel de Matos war erst seit einem halben Jahr in der Kolonie, doch sie langweilte sich bereits. Im Oktober hatte, ungefähr zum Zeitpunkt des
Diwali
-Festes, die Ballsaison begonnen, doch Bälle entsprachen nicht der Art von Erlebnissen, die Isabel sich ausgemalt hatte. Wie naiv und unwissend sie gewesen war! Sie hatte sich, als sie nach Portugiesisch-Indien aufgebrochen war, vorgestellt, in ein exotisches Land zu kommen. Sie hatte vor ihrem geistigen Auge prächtig geschmückte Elefanten gesehen und nicht minder extravagant herausgeputzte Inder. Sie hatte von Tigerjagden geträumt und von Begegnungen mit verrückten Maharadschas, die weltweit für ihre Verschwendungssucht berühmt waren. Sie hatte sich schon als Gast auf einer opulenten indischen Hochzeit gesehen, als Besucherin von Hindu-Tempeln und als interessierte Beobachterin der Bräuche dieses Landes mit seiner jahrtausendealten Kultur.
Stattdessen war sie in einer Kopie einer europäischen Stadt gelandet, die sich von Rom, Paris oder Lissabon nur durch ihr tropisches Klima sowie dadurch unterschied, dass man ein paar mehr dunkelhäutige Menschen sah. Die meisten Inder oder Halbinder waren sogar gekleidet wie Europäer, was Isabel sehr befremdlich fand. Die Frauen der vornehmen Kasten trugen eng geschnürte Mieder und Reifröcke, sie puderten ihre schöne braune Haut hell ab und trugen Schönheitspflaster auf dem Dekolleté. Sie steckten sich ihr unglaublich dickes, schwarzes Haar zu Frisuren auf, die bei Europäerinnen nur deshalb so beliebt waren, weil sie dünnem Haar mehr Volumen verliehen. Wenn sie selber, Isabel de Matos, dieses schwere indische Haar gehabt hätte, würde sie es nie anders tragen als zu einem dicken Zopf geflochten. Ihre feinen Flusen erlaubten ihr jedoch kaum eine andere Frisur als einen künstlich aufgepolsterten Knoten im Nacken und mit einem heißen Eisen geformte Kringellöckchen, die ihr Gesicht umrahmten.
Die Gesellschaftsformen und Gepflogenheiten entsprachen ebenfalls denen ihrer Heimat, und nicht einmal beim Essen war man bereit, sich dem Gastland, als das Isabel Indien begriff, zu öffnen. Natürlich wurden die hier angepflanzten Gewürze und Fruchtsorten genossen, aber doch nur in Maßen. Kein gebürtiger Portugiese war bereit, sich ganz auf die Geschmacksabenteuer einzulassen, die die indische Küche zu bieten hatte.
Bei der Architektur war es dasselbe. Die Bauweise entsprach ganz der portugiesischen, und nur aufgrund anderer klimatischer Bedingungen und anderer Materialien erkannte man geringfügige Unterschiede zu den Bauten in Portugal. So waren die Häuser in Goa oft am Giebel mit einer Öffnung versehen, die eine bessere Ventilation erlaubte, und die Hölzer entstammten
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