Der indigoblaue Schleier
Amba sich in das, was einmal das Arbeitszimmer gewesen zu sein schien. Sie schwitzte von der Anstrengung, und sie fühlte sich schmutzig. Aber sie setzte ihre Suche unbeirrt fort. Es war wahrscheinlich ihre einzige Gelegenheit. Doch auch hier fand sie nach intensivem Gestöber nichts, was einer Spieluhr auch nur annähernd ähnelte. Also ging sie weiter zum Schlafzimmer. Es war ein sonderbares Gefühl, im Schlafgemach fremder Leute zu stehen. Schon die ganze Zeit hatte sie sich hier im Haus wie eine Diebin gefühlt, war voller Nervosität gewesen, weil sie Entdeckung fürchtete. Aber im Schlafzimmer wurde dieses Gefühl so übermächtig, dass Amba in diesem Raum mit ihrer Suche nicht fortfahren wollte. Sie machte bereits kehrt, als sie aus dem Augenwinkel ein kleines Puppenbein wahrnahm. Sie bückte sich, um den Gegenstand in Augenschein zu nehmen, und in der Tat: Es handelte sich um eine Spieluhr, wie Rujul sie beschrieben hatte. Auch sie war zerstört worden, denn der untere Teil lag zersplittert unter den Möbeltrümmern, während der obere Teil, der mit den Figurinen verziert gewesen war, nur noch aus dem männlichen Tänzer sowie dem Standbein der Tänzerin bestand, die mit dem Deckel zusammen aus einem Stück geschnitzt waren. Amba stöhnte leise auf. Nicht das, bitte! Sollte denn alles umsonst gewesen sein? Hatte man die Spieluhr zerschlagen und dabei versehentlich ihren Diamanten entdeckt?
Resigniert hockte sie sich hin, um die beschädigten Reste der einst sehr hübschen Spieluhr zu betrachten. Wie hatte Rujul sich noch ausgedrückt? »Die Tänzerin hat das abgewinkelte Bein verloren«? Amba hatte gehofft, ein eben nicht abgebrochenes abgewinkeltes Bein vorzufinden und darin verborgen ihren Stein. Aber das machte wenig Sinn, wenn sie sich die Größe der Tänzer ansah. Die Figuren waren zu klein, ein Hohlraum in einem Bein wäre bei weitem nicht ausreichend für ihren Diamanten gewesen. Oder gab es vielleicht doch im Deckel einen verborgenen Mechanismus oder einen doppelten Boden? Sie drehte und wendete das defekte Teil, untersuchte es genauestens aus allen Blickwinkeln, drückte hier und zog dort, doch nichts tat sich. Dann nahm sie das Stück in beide Hände und ließ es mit voller Wucht auf den Boden krachen. Noch immer nichts. Schließlich trampelte sie mit beiden Füßen darauf herum, aber auch als es vollends zerbarst, enthüllte es kein Geheimversteck und keinen Edelstein.
Amba hätte vor Wut heulen mögen. Was hatte Rujul nur gemeint? Bei aller Liebe zum Rätselraten – allzu kryptisch durfte es ja auch nicht sein. Sie verließ mit hängenden Schultern das Schlafgemach und schlich durch den Flur. Die Gemälde, die hier die Wände verziert hatten, waren mit Messerstichen aufgeschlitzt worden, so dass ihr nur schlaffe Leinwandfetzen entgegenhingen. Ärgerlich über dieses unsinnige Werk der Vernichtung rupfte Amba an einem dieser Fetzen, der sich mit einem lauten Ratsch löste. Gedankenverloren rollte sie das Stückchen bemalter Leinwand in ihren Fingern, bis sie es zufällig ansah. Sie traute ihren Augen nicht. Das war doch der Tänzer!
Sie rannte zurück zu dem zerfetzten Gemälde. Es brauchte ein wenig Phantasie, um noch das Motiv erkennen zu können; das Bildnis zeigte Rujul und seine Gemahlin in portugiesischem Festgewand, beide mit feierlich ernsten Mienen. Sie standen vor einer Kommode, auf der … die Spieluhr stand! Und da war sie, die Tänzerin, von deren abgewinkeltem Bein nur noch ein Stummel übrig war, genau wie Rujul sie beschrieben hatte. Amba wunderte sich einen Moment über die Realitätstreue des Künstlers, der die beschädigte Spieluhr nicht mithilfe seines Pinsels wieder repariert hatte. Sie hob das schwere Gemälde in seinem Goldrahmen von der Wand und begann, seine Rückseite abzusuchen. Doch abermals ergab ihre Suche nichts. Es wäre ja auch zu schön gewesen, dachte Amba. Solche Stellen waren als Verstecke nicht wirklich geeignet, da bei Hausdurchsuchungen gern hinter den Gemälden nachgeschaut wurde. Dann betrachtete sie die Wand. Wo das Gemälde gehangen hatte, sah man deutlich die vergilbte Silhouette des Rahmens. Die Wand selber war mit einem Stoff bezogen, den Amba nun abriss. Dahinter kam Verputz zum Vorschein. Sie klopfte ihn ab, und dann, genau an der Stelle, über der sich das nicht mehr vorhandene Bein der Tänzerin befunden hatte, hörte sie es. Ein Hohlraum.
Im Nebenraum holte sie sich ein abgebrochenes Stuhlbein, um es als Werkzeug zum Aufstemmen der Wand
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