Der indigoblaue Schleier
unaussprechlichen Namen zu entkommen, doch kurz vor der Grenze nach Maharashtra wurden sie aufgegriffen. Gründe nannte man ihnen keine. Niemand hörte sie an. Sie wurden schnurstracks in diesen Kerker geworfen, mit nichts als ihren Reisebündeln, die zuvor – erfolgreich – nach Wertsachen durchsucht worden waren. Wenigstens ihre Kleidung und ihre kleinen steinernen Götterfiguren hatte man ihnen gelassen, obwohl man von beidem wahrlich nicht satt wurde.
Als der Wärter und die Frau verschwunden waren und sich wieder die zermürbende Dunkelheit über alles legte, hörte Chandra auf mit seinen Flüchen und Beschwörungen, seinem Betteln und Flehen. Er ließ sich auf den verschmutzten Lehmboden sinken und hielt die Tränen zurück. Vielleicht sollte er sich ein Beispiel an Pradeep nehmen. Sein Bruder, ausgerechnet sein dümmlicher Bruder Pradeep, verhielt sich im Angesicht des bevorstehenden Endes so viel klüger, weiser und stolzer als er.
Man musste sein Karma akzeptieren.
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54
A mba bewegte sich unauffällig zwischen all den Menschen, die die Straßen der Stadt um diese Zeit bevölkerten. Es war ihr unangenehm, ihren Ausdünstungen und dem Gerempel ausgesetzt zu sein. Um wie viel lieber hätte sie jetzt in ihrer Sänfte gesessen! Aber bevor sie sich wieder in die Unnahbarkeit Dona Ambas flüchtete, musste sie den Stein holen, und ihre Verkleidung machte sie praktisch unsichtbar. Sie war eine einfache Frau, wie unzählige andere auch in einen schlichten Baumwollsari gehüllt und mit einfachen Ledersandalen an den Füßen. Ein aufmerksamer Beobachter hätte bemerken können, dass ihre Hände und Füße mit aufwendigen Hennamalereien versehen waren, wie sie sich nur wohlhabende Frauen leisten konnten, die keine körperliche Arbeit verrichten mussten. Er hätte vielleicht ebenfalls bemerkt, dass Amba sich bewegte wie eine Herrin und nicht wie eine Dienerin, mit gerecktem Kinn und stolzer Haltung. Aber niemand schien sie zu beachten. Oder doch?
Immer wieder blickte Amba sich um und vergewisserte sich, dass niemand ihr folgte. Sie hatte ein eigenartiges Gefühl. Die Wache im Kerker war urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, und obwohl sie und Rujul in Rätseln gesprochen hatten, würde man vielleicht jeden Besucher des Juweliers verfolgen, um dessen versteckten Reichtümern auf die Spur zu kommen. Sie näherte sich Rujuls Haus. Der Laden war abgesperrt, die Haustür versiegelt. Vermutlich hatte man hier bereits gesucht. Aber wenn sie Glück hatte, wäre in den Trümmern noch eine Spieluhr zu finden, die ihren Diamanten barg.
Sie schlich sich in einen Durchgang des Nachbarhauses, der zu einem Hof führte. Von dort würde sie wahrscheinlich einen Zugang zum Hof von Rujuls Haus finden und von dort wiederum eine Möglichkeit, sich Zutritt zu verschaffen. Sie konnte sich ja schlecht am helllichten Tag auf einer der belebtesten Straßen der Stadt an der versiegelten Vordertür zu schaffen machen. Tatsächlich waren die beiden Hinterhöfe nur durch einen morschen Bretterzaun voneinander abgetrennt, und in diesem klaffte eine große Lücke. Bestimmt hatten die Dienstboten der beiden Häuser hier miteinander getuschelt, Neuigkeiten ausgetauscht oder sogar miteinander geschäkert. Sie sah sie förmlich vor sich, wie die Mädchen die Reste des Festtagsgebäcks ihrer Senhora der Flamme von nebenan anboten oder wie die Burschen den benachbarten Mädchen Samtkordeln für ihre Zöpfe schenkten, die sie zuvor aus den Vorhangschlaufen im Salon gelöst hatten. Amba musste unwillkürlich lächeln.
Jetzt waren die Höfe beider Häuser verwaist. Sie gelangte ungehindert zum Hintereingang von Rujuls Haus. Dann umwickelte sie ihre Faust mit einem Ende ihres Saris und zerbrach ein Fenster aus bleigefassten Perlmuttscheibchen. Der Lärm wollte ihr ohrenbetäubend erscheinen, aber nichts rührte sich. Sie griff nach innen und schob den Riegel zurück.
Die Zerstörung zeugte von noch größerer Wut als die im Haus von Miguel. Es war nichts an seinem Platz geblieben und nichts intakt. Es war ein heilloses Durcheinander aus zerbrochenem Geschirr, zerfetzten Stoffen, zertrümmerten Möbeln. Vorsichtig bahnte Amba sich ihren Weg durch die Räume. Sie kannte davon nur einen, nämlich den Salon, in dem Rujul sie manchmal, wenn sein Laden geschlossen blieb, empfangen hatte. Dort wollte sie mit ihrer Suche nach der Spieluhr beginnen.
Nach einer halben Stunde, in der sie jeden Schnipsel und jede Scherbe zweimal umgedreht hatte, begab
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