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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Er sah in die Ecke, und dort saß, wie erwartet, derselbe
punkah wallah
wie beim letzten Mal.
    »Crisóstomo, nicht wahr?«
    »Jawohl, Senhor.«
    »Wie lange sitzt du schon dort?«
    »Ich kam kurz vor Euch. Zuvor habe ich im Salon für frische Luft gesorgt. Die Senhora hat mich frühzeitig dort weggeschickt.«
    »Davon habe ich gar nichts mitbekommen.«
    »Nein, Senhor. So soll es ja auch sein.«
    »Aber auch nicht davon, dass die Senhora Furtado im Raum war, um dich herauszuwinken. Erstaunlich, wie leise ihr sein könnt. Auf den Straßen gewinnt man eher den Eindruck, die Inder seien das lärmendste Volk der Welt.«
    Crisóstomo rollte kurz den Kopf und lächelte verschmitzt in sich hinein. Miguel sah, dass dem Jungen etwas auf den Lippen lag, er jedoch nicht wagte, ohne ausdrückliche Aufforderung zu sprechen.
    »Na los, sag schon. Ich merke doch, dass du mir etwas mitteilen willst.«
    »In Indien bleibt wenig geheim.«
    »Soso. Und was willst du mir damit sagen? Dass alle Hausdiener das Gespräch zwischen Senhor Furtado und mir belauscht haben?«
    Erneut rollte der Junge mit dem Kopf. »Und die Senhora.«
    »Du bist indiskret.«
    »Verzeiht, Senhor.« Damit senkte Crisóstomo seine schweren Lider und machte wieder den Eindruck vollkommener Geistesabwesenheit, wie sie in seiner Position erwünscht war.
    Miguel starrte eine Weile schweigend an die Decke, bevor er das Wort wieder an den Palmwedler richtete.
    »Wie alt bist du?«
    »Achtzehn Jahre, Senhor.«
    »Und wie lange übst du diese Tätigkeit schon aus?«
    »Seit ich sieben Jahre alt war, Senhor.«
    Miguel versuchte sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Das war ja unmenschlich, den Verstand eines Jungen so lange brachliegen zu lassen! »Du machst eigentlich nicht den Eindruck, als seist du geistig zurückgeblieben«, sagte er, als er sich schließlich wieder gefasst hatte.
    »Nein, Senhor.«
    »Und warum bist du dann nicht befördert worden? Warum gibt man dir keine anspruchsvolleren Aufgaben?«
    »Weil ich für diese Arbeit geboren wurde. Mein Vater und meine Brüder sind ebenfalls
punkah wallahs.
«
    »Hast du denn keine Lust, etwas anderes zu tun? Die alten Kastengesetze sind seit über hundert Jahren außer Kraft.«
    »Sind sie das?«
    Bevor Miguel darauf etwas erwidern beziehungsweise nachfragen konnte, was genau Crisóstomo damit gemeint hatte, klopfte es an der Tür.
    »Ist bei Euch alles in Ordnung, Senhor Miguel?«, hörte er die gedämpfte Stimme Senhor Furtados. »Belästigt der
punkah wallah
Euch mit seinen aufrührerischen Ideen?«
    »Nein, alles ist bestens. Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht, Senhor Furtado. Und der verehrten Senhora ebenfalls.«
    »Danke. Gute Nacht.«
    Miguel hörte keine Schritte, die sich von der Tür entfernten, doch das mochte nichts zu bedeuten haben. Die Furtados trugen weiche Schlappen im Haus, die Dienerschaft war barfüßig, so dass man praktisch nie jemanden kommen oder gehen hörte, wenn er sich nicht bemerkbar machte. Er sah zu dem Burschen hinüber, der, plötzlich hellwach und mit aufgerissenen Augen, kerzengerade in seiner Ecke saß und Miguel durch Zeichen zu verstehen gab, er möge nichts sagen. Nach einer Weile entspannte der Junge sich wieder, und Miguel flüsterte ihm zu: »Aufrührerische Ideen? Erzähl mir davon.«
    Crisóstomo schwieg.
    »Ich werde es für mich behalten. Also sprich.«
    Crisóstomo beantwortete die Frage mit einer Gegenfrage: »Würdet denn Ihr mich in Euerm Haus einstellen und mir eine verantwortungsvollere Position geben?«
    »Besteht darin deine Rebellion? Dass du dir eine andere Arbeit wünschst? Nun, warum nicht? Was kannst du?«
    »Ich kann rechnen. Und ich spreche Hindi und Marathi, denn meine Familie kommt ursprünglich nicht aus Goa.« Er schien sehr stolz auf seine Kenntnisse zu sein.
    »Rechnen kann ich selber ganz leidlich. Und Übersetzer findet man auch an jeder Ecke. Was sonst noch?«
    »Ich kann mich unsichtbar machen.«
    Miguel versuchte ein Lachen zu unterdrücken. Erstens war er noch immer nicht sicher, ob sie nicht einen ungebetenen Zuhörer hatten, zweitens wollte er den Jungen nicht kränken. Aber seine Reaktion war Crisóstomo keineswegs entgangen.
    »Das ist kein Scherz, Senhor. Ich werde es Euch beweisen. Es ist nämlich so, dass ich von so durchschnittlicher Statur und von so mittelmäßigem Aussehen bin, dass mich niemand beachtet.«
    Miguel betrachtete den Burschen genauer. Crisóstomo verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, das immer breiter

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