Der indigoblaue Schleier
sehe meiner Abreise mit großer Vorfreude, allerdings auch mit Wehmut, entgegen. Es wird mir schwerfallen, die Kolonie zu verlassen, in der ich seit über zwanzig Jahren lebe. Aber meine Kinder werden mich zur Hochzeit begleiten, die für das kommende Jahr anberaumt ist, so dass mir der Abschied nicht allzu schwer gemacht wird. Auch freue ich mich wieder auf das gesellige Leben in der alten Heimat.«
»Sie heiratet den alten Knilch nur wegen seines Geldes«, platzte Delfina heraus und erntete schockierte Blicke von allen Seiten.
Wahrscheinlich hat sie recht, sinnierte Miguel. Er fragte sich, woher und wie lange Dona Assunção den Mann kannte. Es konnte doch nicht sein, dass da aus heiterem Himmel ein Verlobter auftauchte, den anscheinend nicht einmal ihre Kinder kannten.
»Sie heiratet ihn, weil wir ihr nicht das bieten können, was ein Ehemann …«, verbesserte Sidónio seine Schwester, woraufhin die arme Maria betreten die Flecke auf der Tischdecke fixierte und Delfina in sich hineinprustete.
Álvaro, der mittlere Bruder, korrigierte seine Geschwister mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit. »Unsere Mutter hat jedes Recht der Welt, sich einen neuen Ehemann zu suchen. Unser Vater ist seit mehr als zehn Jahren tot. Wir sind erwachsen. Und natürlich hat sie das Bedürfnis, sich wieder auf einem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen, das ihr all die Jahre in Goa nicht zugänglich war. Der glückliche Verlobte wurde uns von allen Informanten als ausgesprochen geistreicher und stattlicher Herr beschrieben, der trotz seines reiferen Alters sehr von den Damen umschwärmt ist und unserer Mutter ein adäquater Gefährte wird. Ich jedenfalls wünsche ihr alles Glück der Welt.«
»Danke, mein lieber Álvaro«, sagte Dona Assunção mit leicht belustigter Miene. »Du sprichst mir aus der Seele.«
Zum Dessert wurde eine köstliche
bebinca
serviert, eine Art Schichtkuchen aus Kokosraspeln, Eiern und Zucker. Doch in dem allgemeinen aufgeregten Gemurmel ging das Lob für diese Delikatesse unter. Alle bestürmten Dona Assunção mit ihren Fragen, man erging sich in Schwärmereien über das kulturelle Leben in der so weit entfernten Heimat, und jeder gab gute Ratschläge, was einzupacken und dorthin mitzunehmen sei.
Die jüngeren Leute steckten die Köpfe zusammen und spekulierten leise darüber, was Dona Assunçãos Zukünftiger wohl für ein Mann war.
Während Miguel sich noch fragte, was zum Teufel er hier heute Abend eigentlich verloren hatte und warum er zu den Auserwählten der Hausherrin gehört hatte, raunte Delfina ihm über Álvaros Teller hinweg zu: »Ich finde deine grünen Strümpfe ausgesprochen kleidsam.« Daraufhin bekam Miguel einen Lachkrampf, und zwar einen so heftigen, dass er sich unter Glucksen entschuldigen und vor die Tür gehen musste. Er floh aus dem eleganten Speisesaal auf die Veranda.
Der Himmel war vom Mond hell erleuchtet, die Sterne funkelten von dem klaren, schwarzen Himmel herab. Miguel lehnte sich über die gemauerte Brüstung und ließ den Blick durch den Garten schweifen. Der Duft von Frangipani- und Champa-Blüten lag in der samtenen Luft, eine milde Brise ließ die Palmen und die Mangobäume rascheln. Er schrak auf, als er merkte, dass er Gesellschaft bekommen hatte. Sidónio war neben ihn getreten.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Ja, danke, alles in Ordnung. Es ist nur … ich frage mich, warum deine Mutter ausgerechnet uns eingeladen hat, um von ihrer Verlobung zu erzählen.«
Sidónio schaute Miguel zweifelnd an, als sei ihm schleierhaft, wie sein sonst so kluger Freund eine derartig einfache Sache nicht durchschauen konnte. »Das ist doch sonnenklar. Mamãe geht nach Europa. Zuvor will sie uns jedoch gut untergebracht wissen, da wir vermutlich nach den Hochzeitsfeierlichkeiten nach Goa zurückkehren werden. Sie will uns alle unter die Haube bringen. Für Delfina hat sie dich auserkoren, für Álvaro die zarte Maria und für mich die hochmütige Isaura, die ihrerseits jedoch nur Blicke für Álvaro zu haben scheint.«
Miguel antwortete nicht direkt. Er sann weniger über das Gesagte nach, das ihm vollkommen schlüssig erschien, als vielmehr darüber, dass sein Freund heute Abend zum ersten Mal einen vollständigen Satz zustandegebracht hatte. Ihm fiel außerdem wieder der unselige Astrologe ein. Eine schicksalhafte Begegnung? Von den drei anwesenden jungen Frauen in heiratsfähigem Alter, Delfina, Maria und Isaura, interessierte ihn keine einzige – die erste fand er
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