Der indigoblaue Schleier
auch danach, ob ihr Vater Bhavani vor seiner Verschleppung irgendetwas gegeben habe – was sie standhaft verneinte. Den kleinen Leinenbeutel, den ihr Vater ihr vor ihrer Flucht in die Hand gedrückt hatte, schützte Bhavani standhaft vor fremden Blicken. Nicht einmal Nayana und Vijay wussten davon.
Bhavani brachte ihrerseits ebenfalls das immer gleiche Thema aufs Tapet. Es wunderte sie, dass niemand über den Verbleib ihres Vaters sprach.
»Lebt abba noch?«, begehrte Bhavani zu wissen. »Wenn er irgendwo eingekerkert ist, benötigt er unsere Hilfe, unseren Zuspruch. Wir könnten ihm das Leben im Gefängnis erträglicher machen, ihm vielleicht Leckereien vorbeibringen.«
»Damit brächtest du auch den Rest der Familie in Gefahr«, wurde ihr dann jedes Mal beschieden, oder auch: »Bitte lieber die Götter um Hilfe für ihn.« Bhavanis und Vijays
abba,
so hatte man es den Kindern erklärt, war verhaftet worden, weil er als Hindu sich nicht anpassungsfähig genug gegenüber den moslemischen Machthabern verhalten hatte. »Unser Glaube wird vom Großmogul geduldet – aber die Leute, die in den Dörfern und Städten das Sagen haben, sind ausnahmslos Mohammedaner. Wir müssen uns ruhig und unterwürfig geben, sonst droht uns ein ähnliches Schicksal wie deinem Vater.«
In den Wochen nach dem Überfall auf ihr Haus war Bhavani oft aus nichtigem Anlass in Tränen ausgebrochen, doch mit der Zeit beruhigte sie sich ein wenig. Bis sie eines Tages erneut das Thema zur Sprache brachte und darum bat, ihren Vater im Gefängnis besuchen zu dürfen.
»Still!«, herrschte Tante Sita sie an. »Dein Vater ist längst tot.«
Bhavani erstarrte.
»Ja«, sagte Tante Sita mit milderer Stimme, »wir wollten euch Kinder schonen. Aber es ist die Wahrheit.«
Noch am selben Tag schnitt sich Bhavani eigenhändig ihren prachtvollen langen Zopf ab und entledigte sich ihrer bunten Pluderhosen und Hemden, um sich ganz in weiße Baumwolle zu hüllen. Sie sollte die nächsten drei Jahre Trauer tragen.
Gründe dafür gab es mehr als genug.
Das von Toleranz und Großherzigkeit geprägte Leben, wie sie es bisher gekannt hatte, war vorüber. Im Haus ihres Onkels, der selber drei Söhne hatte, erlaubte man ihr als Mädchen nicht, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen, die ein Hauslehrer den Jungen gab. Vorbei war es mit dem Studium der Veden, vorbei auch mit den Lektionen in Mathematik, Geographie und Astronomie. Stattdessen wurde sie von ihrer Tante Sita in den Künsten unterrichtet, die eine gute Ehefrau zu beherrschen hatte: wie man den Blick niederzuschlagen hatte, um Ergebenheit auszudrücken, und wie man mit den Lidern flatterte, um freudige Erregung zu heucheln; wie man die Haut behandelte, damit sie seidig glatt wurde, und wie man das Haar pflegte, damit es den Gatten betörte; wie man mit dem Schmuck klimperte, um die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, und wie man absolut reglos verharrte, wenn der Gatte ärgerlich war. Auch in die Lehre von der Harmonie der Farben wurde Bhavani eingeführt, des Weiteren in die Kunst des Stickens und des Arrangierens von Blumen. Wofür das alles gut sein sollte, begriff Bhavani nicht, und sie fragte irgendwann auch nicht mehr danach. Von den ebenso schroffen wie nutzlosen Antworten, die ihre Tante ihr immerzu gab, hatte sie längst genug.
Ihre eigene Mutter war, wenn Bhavani sich richtig erinnerte, ganz anders gewesen. Sie war gestorben, als Bhavani fünf Jahre alt war, zusammen mit dem Kind, das sich nicht aus ihrem Leib hatte lösen wollen. Es war ein Mädchen gewesen, und Bhavani hatte dieses tote Schwesterchen, das für den Tod der Mutter verantwortlich war, abgrundtief gehasst. Bhavanis Mutter war eine kluge, schöne und vornehme Frau gewesen, und nie würde Bhavani ihr helles Lachen und ihr sanftes Streicheln vergessen. Ihre Mutter hatte ihr das Ramayana erzählt, sie hatte mit ihr die Buchstaben der Urdu-Schrift gemalt und sie hatte einfache Rechenaufgaben mit ihr geübt. Bhavani konnte sich nicht vorstellen, warum sich dies in späteren Jahren hätte ändern sollen, abgesehen vom Niveau der Lektionen. Ebenso wenig konnte sie sich vorstellen, warum es für eine gute Ehefrau wichtiger sein sollte, sich von Kopf bis Fuß zu enthaaren, als gut lesen, schreiben und rechnen zu können. Sollte die perfekte Gattin sich etwa von ihren Dienern über den Tisch ziehen lassen, nur weil sie nicht bis drei zählen konnte?
Die mangelnde Befriedigung ihres Wissensdurstes ging einher mit einer großen
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