Der indigoblaue Schleier
ihn nicht der Kutscher dazu bewegt, in Richtung Haus zu humpeln, aus dem nun zwei Diener gelaufen kamen, um Miguel zu helfen. Kurze Zeit später kamen auch Álvaro und Sidónio herausgerannt, bestürzt über den Zustand ihres Freundes.
Doch mehr als seine Beinverletzung machte ihnen Miguels Geisteszustand Sorgen. Denn noch lange nachdem Dona Ambas Kutsche davongefahren war, brachte Miguel keinen einzigen zusammenhängenden Satz hervor. Der kurze Blick in dieses überirdisch schöne Gesicht hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Was diese wissenden grünen Augen wohl schon alles gesehen haben mochten? Wer war Dona Amba? Welchen Launen des Schicksals war sie ausgesetzt gewesen? Und wie würde er es anstellen, sie wiederzusehen?
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15
Nordindien, 1616
B
havani wischte ihre Tränen fort, bevor sie zurück zu dem hohlen Baum lief, in dem zitternd ihr kleiner Bruder hockte. Mit kräftiger Stimme, die einen Mut ausdrückte, den sie ganz und gar nicht empfand, befahl sie Vijay, aus dem Versteck herauszuklettern.
»Wir müssen zu Onkel Manesh, ohne dass uns jemand sieht. Am besten gehen wir in ganz normaler Geschwindigkeit, denn wenn wir rennen, fallen wir nur umso mehr auf.«
»Aber warum? Wo ist unser
abba?
Was ist geschehen? Ich habe Hunger, und ich will in mein Bett!«
»Stell es dir vor wie ein Spiel, ja? Es ist ein sehr lustiges Spiel, aber erst, wenn wir bei Onkel Manesh angekommen sind, haben wir gewonnen. Du willst doch gewinnen, oder?«
Vijay nickte traurig. »Kann ich Bubu mitnehmen?«
»Nein.« Bubu war ein Stoff-Elefant, das Lieblingsspielzeug ihres Bruders. »Ich muss auch meine Puppe Leila hierlassen. Aber sie wird gut auf Bubu aufpassen, versprochen.«
»Bekommen wir bei Onkel Manesh etwas zu essen?«
Bhavani nickte, und die Aussicht auf eine Mahlzeit bewegte Vijay schließlich, sich seiner Schwester zu beugen.
Sie liefen über das Grundstück, an den verwaisten Stallungen und an den verlassenen Dienstbotenunterkünften vorbei, bis sie atemlos das Eingangsportal erreichten. Es war geöffnet, eine der Türen bewegte sich im Wind. Vorsichtig lugte Bhavani um die Ecke. Niemand war auf der Straße zu sehen. Es musste schon sehr spät in der Nacht sein, denn abends wie auch am frühen Morgen herrschte hier, wie sie wusste, reger Betrieb. Die Stille war noch beängstigender als die mondsilbrige Dunkelheit, doch Bhavani ließ sich davon nicht einschüchtern. Sie nahm ihren Bruder bei der Hand und betete, sie möge den Weg zum Haus ihres Onkels finden. Sie waren sonst immer dorthin gefahren worden.
Gerade als sie den ersten Schritt auf die Straße setzten, hörten sie ein Flüstern. »Bhavani? Vijay? Wartet!«
Zu Tode erschrocken hielten die Kinder inne. Wer mochte das sein? Die Stimme war aufgrund des Flüsterns nicht auf Anhieb zu erkennen gewesen – doch die Gestalt, deren Umrisse sich nun aus dem Schatten des Torpfostens lösten, war ihnen vertraut.
»Nayana!«, riefen die Geschwister gleichzeitig.
»Psst!« Ihre Kinderfrau kam auf sie zu und drückte die beiden an sich. »Ich habe die halbe Nacht hier auf euch gewartet. Wir müssen fort, hinaus aus der Stadt.«
»Nein«, entschied Bhavani. »Wir gehen zu Onkel Manesh. Unser Vater hat das so gewollt.«
Nayana schüttelte traurig den Kopf. Doch dann fiel ihr Blick auf Bhavanis Gesicht, und trotz der spärlichen Beleuchtung konnte sie darin eiserne Entschlossenheit erkennen. Das Mädchen hatte das Kinn trotzig nach vorn geschoben, aus seinen Augen sprach eine immense Willensstärke. Nayana erkannte, dass es keinen Sinn haben würde, sich dem Kind zu widersetzen. Und bevor Bhavani noch auf die irrwitzige Idee käme, allein mit dem kleinen Vijay dorthin zu gehen, mitten durch den Schmutz und die Gefahren der Stadt, würde sie, Nayana, die beiden wohl oder übel begleiten müssen.
Das Leben im Haushalt des Onkels war weit weniger luxuriös, als die Geschwister es bisher gewohnt waren. Das Haus war kleiner und nicht so komfortabel eingerichtet wie ihr Elternhaus, der Garten deutlich ungepflegter und nicht so weitläufig. All das hätte Bhavani gleichmütig hingenommen, wenn sie nur endlich erfahren hätte, was mit ihrem Vater geschehen war. Doch Onkel Manesh und seine Frau Sita reagierten immer gleich auf Bhavanis Fragen: Sie schwafelten von Pech, von schwierigen politischen Verhältnissen und schlechtem Karma, und sie redeten Bhavani zu, das ihr auferlegte Schicksal mit Fassung zu tragen. Immer wieder erkundigte Onkel Manesh sich
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