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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Einsamkeit. Bhavani war es nicht gestattet, den engen Kontakt zu ihrer einstigen Kinderfrau Nayana aufrechtzuerhalten. Nayana wurde in das Dienstbotengebäude verbannt, wo sie ihrerseits allerlei Schikanen seitens der jüngeren Hausangestellten ausgesetzt war. Auch ihren Bruder Vijay bekam Bhavani nur noch selten zu Gesicht. Das wäre an sich nicht bedauerlich gewesen, wurde ihr Bruder doch immer fetter und unausstehlicher. Doch er war eines der wenigen Bindeglieder zu ihrer Vergangenheit, und Bhavani sträubte sich dagegen, diese in Vergessenheit geraten zu lassen, wie es ihr Onkel und ihre Tante offenbar beabsichtigten.
    An ihrem zwölften Geburtstag machte Vijay ihr eine große, bunte Glasmurmel zum Geschenk. Bhavani ahnte, was es ihren zehnjährigen Bruder gekostet haben musste, sich von dieser Kostbarkeit zu trennen. Da er sich an diesem Tag etwas zugänglicher als üblich zeigte, nahm sie ihn beiseite.
    »Vielen Dank, kleiner Bruder. Die Murmel ist wundervoll. Aber hast du dich nie einmal gefragt, was aus deinem Erbe geworden ist? Du könntest mir echte Edelsteine schenken statt Glasmurmeln …«
    »Wie das?«
    »Nun ja. Wir hatten ein Haus, das dreimal so groß war wie dieses. Wir hatten doppelt so viele Diener. Wir besaßen wertvolle Elfenbeinminiaturen und Ebenholzmöbel. Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr daran, aber wir hatten einige sehr edle Pferde, erlesenes Silber und natürlich die Juwelen unserer Mutter. All das hätte eines Tages dir gehört. Was ist damit geschehen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Nein, und ich weiß es auch nicht.«
    »Lass uns doch einfach Onkel Manesh fragen.«
    »Das habe ich einmal versucht. Er hat behauptet, er habe damit die hohen Schulden unseres Vaters getilgt. Aber …«
    »Aber was?«
    »Nun ja …« Bhavani musste ihre Überlegungen nicht genauer ausführen. Ihr Ziel hatte sie erreicht: Sie hatte den Samen des Zweifels in ihrem Bruder gesät.
    Tatsächlich wurde Vijay in den darauffolgenden Monaten stiller und nachdenklicher. Er hatte, so vermutete Bhavani, das Gespräch mit dem Onkel gesucht und keine schlüssigen Antworten erhalten. Oder zumindest keine, die einem zehnjährigen Jungen einleuchteten. Doch anstatt sich fortan skeptischer gegenüber dem Onkel und seiner Familie zu zeigen, richtete sich seine Wut gegen die eigene Schwester. Vijay verpetzte Bhavani, wenn er sie dabei ertappte, heimlich in der Bibliothek des Onkels zu lesen, und er erfand sogar irgendwelche Vergehen, um Bhavani anzuschwärzen. Sie habe dem Küchenjungen schöne Augen gemacht, behauptete er, sie habe sich den Hochzeitsschmuck ihrer Tante umgelegt und sie sei nackt im Fluss schwimmen gewesen. Nichts davon entsprach der Wahrheit, und wenig davon wurde Vijay geglaubt. Schließlich wussten auch Onkel Manesh und Tante Sita um die Charakterschwächen ihres Neffen. Dennoch wurde Bhavani jedes Mal hart bestraft. Besonders ihre Tante Sita entwickelte ein perverses Vergnügen an den Züchtigungen, mit denen sie ihre Nichte quälte. Mit großer Wonne schlug sie sie ins Gesicht oder zog ihr gar einen Lederriemen über den Rücken.
    Bhavanis einzige Flucht vor ihren seelischen und körperlichen Schmerzen bestand im Fasten. Sie hungerte sich beinahe zu Tode. Ihre weiße Trauerkleidung behielt sie bei, auch ihr Haar schnitt sie sich weiterhin regelmäßig ab. Es war ohnehin schon ganz stumpf geworden. Sie bekam schlimme Pickel im Gesicht, ihre Fingernägel kaute sie ab, bis sie bluteten. Doch all dies konnte nicht verbergen, dass sie sich zu einer Schönheit entwickelte. Vielleicht war es sogar gerade ihre dürre Gestalt und ihre durchscheinende Haut, die ihre dicht bewimperten grünen Augen so hervorstechen ließen, und vielleicht trug die schlichte weiße Kleidung umso mehr dazu bei, die makellosen Züge zu betonen.
    Im Gegensatz zu den männlichen Familienmitgliedern, die weibliche Anmut erst erkennen konnten, wenn sie mit einer drallen Figur, wallenden Kleidern und viel Schmuck daherkam, wusste Tante Sita um die außergewöhnliche Schönheit ihrer Nichte. Sita lachte sich insgeheim ins Fäustchen, dass Bhavani sich derartig verschandelte, und beließ es dabei – bis ihr Gatte sie für Bhavanis Aussehen zur Rechenschaft zog.
    »Wie sollen wir je einen Ehemann für sie finden? Du weißt, dass wir keine große Mitgift aufbringen können. Wenn sie wenigstens schön wäre, dann würde ich vielleicht einen geeigneten Kandidaten auftreiben können. Aber so? Wer sollte ein so dürres, farbloses Wesen

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