Der indigoblaue Schleier
nehmen? Kümmere dich darum.«
Also wurde Bhavani gemästet. Man zwang sie, ihren vollen Teller leer zu essen, andernfalls dürfe sie sich nicht vom Tisch entfernen. Nach zwei Tagen, die Bhavani störrisch vor ihrem Teller verbracht hatte, ohne ihn anzurühren, gab sie auf – und zwar nur, weil sie sich nicht die Blöße geben wollte, vor ihren Verwandten ihre Blase zu entleeren. Man stellte außerdem alle Schneidewerkzeuge vor ihr sicher, damit sie sich nicht länger ihr Haar abschneiden konnte, und sie wurde gezwungen, sich farbenfroh zu kleiden. Bhavanis Fingerspitzen wurden mit einer bitteren und giftigen Tinktur behandelt, damit sie ihre Nägel nicht weiter abbeißen konnte. Regelmäßig wurde sie von einer dafür ausgebildeten Expertin gebadet, enthaart, abgerubbelt, geölt und massiert, und ihr Gesicht wurde mit speziellen Salben und Wässerchen behandelt.
Die Zwangskur zeigte das erwünschte Ergebnis. Schon nach wenigen Wochen waren die Pickel verschwunden, die Wangen voller und rosiger geworden. In der bunten Kleidung und mit den geschminkten Augen machte Bhavani nun großen Eindruck auf die Männer – solange sie einen Schleier über ihren Kopf legte. Das Haar würde länger brauchen, bis es nachgewachsen war. Prompt trat der Fall ein, den ihre Tante Sita gefürchtet hatte: Nicht nur ihre Söhne, sondern auch ihr Mann verschlangen das Mädchen mit Blicken. Es war so demütigend! Sie selber war nie eine große Schönheit gewesen, doch hatte sie dies mit ihrem herrlichen Körper und kunstvoll aufgetragenen Farben wettmachen können. Und nun kam ein zwölfjähriges Mädchen daher, das sich seiner Schönheit nicht bewusst war, ja, sie nicht einmal für erstrebenswert hielt, und bezauberte alle Männer in ihrer Umgebung. Sita rächte sich für diese Ungerechtigkeit, indem sie Bhavani nur noch mehr mit ihren Bosheiten drangsalierte. Kurz vor dem dreizehnten Geburtstag ihrer Nichte suchte Sita ihren Gemahl auf und legte diesem dringend ans Herz, Bhavani zu verheiraten. »Sie ist verstockt und bringt Unfrieden in dieses Haus. Such ihr einen Mann, der sie bändigt.«
»Bhavani«, wandte sich Onkel Manesh ein paar Monate darauf an seine Nichte, »ich muss mit dir reden.«
Bhavani ließ sich ihren Schrecken nicht anmerken, sondern schlug, wie man es sie gelehrt hatte, bescheiden die Augen nieder. Dass ihr Onkel das Gespräch mit ihr suchte, konnte nichts Gutes zu bedeuten haben.
»Du bist jetzt in einem Alter, in dem du heiraten musst. Du hast dich zu einer wunderhübschen jungen Frau entwickelt, und ich bin sehr stolz, dass ich einen geeigneten Kandidaten für dich gefunden habe.«
»Wen?«
Onkel Manesh sah sie pikiert an. »Misstraust du meinem Urteil? Er ist ein guter Mann, der sich gut um dich kümmern wird. Tante Sita und ich haben uns große Mühe gegeben, den Richtigen auszuwählen. Auch der Astrologe hält diese Verbindung für äußerst vielversprechend. Ich glaube nicht, dass du dir anmaßen darfst, unsere Entscheidung in Frage zu stellen.«
»Natürlich nicht, entschuldige, Onkel.« Bhavani klimperte mit ihren Wimpern und schaute Onkel Manesh mit einer Mischung aus Unschuld und Sinnlichkeit an, die ihm beinahe den Atem raubte. »Ich dachte nur, nun, es wäre freundlich, wenn du mir mehr über ihn berichten könntest. Wenn ich einige seiner Interessen kennte, würde ich mich entsprechend vorbereiten, um ihn nicht zu langweilen.«
»Das ist sehr löblich von dir. Also gut. Er heißt Iqbal und ist ein hochgeschätzter Kaufmann. Seine Frau starb vor kurzem, hinterließ ihm jedoch keine Kinder. Er ist in einem Alter, in dem die Leidenschaften nicht mehr so, ähm, kochend sind, was dich sicher beruhigen wird.«
Das Gegenteil war der Fall. Bhavani malte sich einen zahnlosen Greis aus, der sie, um doch noch Kinder in die Welt zu setzen, allnächtlich bestieg und ihr seinen Zwiebelatem ins Gesicht hauchte. Doch sie ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken. Wenigstens das hatte sie im Haus ihres Onkels gelernt.
»Oh, und was für ein Kaufmann ist er? Mit welchen Waren handelt er?«
»Er ist der größte ortsansässige Lederhändler.«
Bhavani schluckte schwer. Das war unerhört! Sie an einen Mann von so niederer Kaste zu verschachern war die größte Schmach, die man ihr antun konnte. Noch dazu an einen Moslem, wie sein Name vermuten ließ. Er würde sie wegsperren, zusammen mit den anderen Frauen, die er womöglich noch hatte.
»Onkel, ich will nicht undankbar erscheinen, aber warum er?«
»Du
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