Der Insulaner
brachte.
Er glaubte, eine Frau zu sehen, die, in seltsame Kleidung gehüllt, ganz allein den Gebirgspfad emporkletterte und auf ihn zukam, als sei sie völlig geistesabwesend. Das war natürlich unmöglich. Nie würde eine einzelne Frau in dieser abgelegenen Gegend durch die Berge stapfen. Er blinzelte, schüttelte den Kopf und nahm an, sie wäre verschwunden, sobald er wieder den Pfad hinabschaute. Aber sie war noch immer zu sehen. Hael blickte sich um, ob seine Gefährten die Erscheinung ebenfalls wahrnahmen. Dabei bemerkte er, dass er sich wieder einmal weit vor dem Rest der Karawane befand. Er drehte sich nochmals um. Die Frau war noch da, geriet jedoch jetzt ins Taumeln. Nach wenigen Minuten fiel sie seitlich zu Boden, versuchte, sich zu erheben und blieb dann reglos liegen.
Hael trieb sein Cabo vorsichtig vorwärts. Er war gespannt, wie nahe er der Halluzination kommen würde, ehe sie sich in Luft auflöste oder in einen Felsen oder etwas anderes, ganz normales verwandelte. Die Vision blieb jedoch unverändert. Und je näher er kam, umso deutlicher wurde sie. Als er nur noch zehn Schritte entfernt war, wurde ihm klar, dass es sich um keine Halluzination handelte. Eilig sprang er aus dem Sattel und eilte zu der leblosen Gestalt hinüber. Sie lag auf der Seite, die Knie eng an den Leib gezogen, das Gesicht von einer Kapuze bedeckt.
Sanft legte er ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie vorsichtig um, so dass sie auf dem Rücken lag und ihr Kopf in seiner Armbeuge ruhte. Hael zog die Kapuze zur Seite und erblickte zu seinem größten Erstaunen ein Gesicht von übergroßer Schönheit. Es war zart und fein geschnitten, und Erschöpfung und Entbehrungen hatten ihre Spuren hinterlassen, aber dennoch dem Zauber der Frau nichts anhaben können. Die Haut war milchig-weiß, und die Lippen durch die Kälte bläulich verfärbt. Die hellbraune, ungebärdige Haarpracht ergoss sich über den stützenden Arm des jungen Mannes.
Sie war mit Kleidung angetan, wie Hael sie noch nie gesehen hatte. Zwar war der Stoff bunt gefärbt, wie es auch auf Gale üblich war, aber bedeutend schwerer und rauer. Kunstvoll verschlungene Muster verzierten das Gewebe. Einst hatte die Bekleidung aus einer dicken Jacke und enganliegenden Hosen bestanden, konnte aber inzwischen nur noch als Lumpen bezeichnet werden. An den Füßen trug die Frau Stiefel aus weichem Leder, deren arg zerfetzte Sohlen blutbefleckt waren.
Einen Augenblick lang flatterten ihre Lider und öffneten sich weit. Grüne Augen sahen ihn an. Hael vermochte ihrer Miene nichts zu entnehmen. Wahrscheinlich spürte sie schon nichts mehr. Diese wunderschöne Kreatur war dem Tode durch Unterkühlung und Erschöpfung nahe, und der kalte Erdboden entriss ihr den letzten Rest der Körperwärme. Behutsam hob er sie auf und wunderte sich, wie leicht sie war. Dann trug er sie zu seinem Cabo hinüber, das mit gesenktem Kopf und enttäuschtem Schnauben den Boden absuchte. Das Gras wuchs in dieser Höhe noch nicht hoch genug, um sich daran laben zu können. Vorsichtig, um das Cabo nicht zu erschrecken, setzte Hael die Frau in den Sattel und stieg auf. Dem Tier schien das zusätzliche Gewicht nichts auszumachen.
Langsam ritt er bergan. Seine Begleiterin hatte die Augen wieder geschlossen. Offenbar reichte seine Körperwärme aus, sie den vergeblichen Kampf gegen die Elemente aufgeben zu lassen und den neuen Schutz anzunehmen. Wer sie wohl sein mochte? Und was tat sie so hoch oben in den Bergen, wo ihr der Tod doch sicher war? Und warum war sie noch höher geklettert, als sie ihm begegnet war? Die Antworten auf diese Fragen mussten jedoch jetzt zurückstehen.
Als er endlich wieder auf die Karawane traf, starrte Shong auf das Bündel in Haels Armen. »Ich dachte, du wolltest einen geeigneten Lagerplatz weiter bergab ausfindig machen«, meinte der Kaufmann. »Stattdessen hast du eine Frau aufgelesen. Bitte erkläre mir das.«
Hael berichtete, was geschehen war, und Shong nickte. »Außerdem fiel mir ein«, fuhr Hael fort, »dass sie vielleicht vor etwas flieht. Es kann nicht schaden, wenn wir herausfinden, was vor uns liegt – sollte sie kräftig genug sein, mit uns zu sprechen.«
»Das klingt vernünftig. Vielleicht kann sie reden, wenn sie sich ein wenig erholt hat.«
Sie ritten wieder bergab. Der Osthang des Berges erwies sich als weniger zerklüftet als der Westhang, und bald schon streckte sich eine Ebene einladend vor ihnen aus, die nicht von gefährlichen Schluchten oder
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