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Der Insulaner

Der Insulaner

Titel: Der Insulaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Maddox Roberts
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gesetzt.
    Wenn es sich nicht nur um reinen, verrückten Hass gehandelt hatte – wer mochte den Mann angeheuert haben? Ein Mitglied der Expedition? Jemand, der noch in Kasin weilte? Darüber musste er gründlich nachdenken.
    Als Hael an jenem Abend am Lagerfeuer saß, mieden ihn die meisten Männer. Anscheinend fanden sie es ratsam, sich von einem Burschen, an dessen Händen frisches Blut klebte, fernzuhalten. Zu seiner Überraschung setzte sich ausgerechnet Choula neben ihn, einen Weinschlauch und zwei Becher in den Händen haltend. Er reichte Hael einen der Becher und schenkte ein.
    »Meinen Glückwunsch zum Sieg«, sagte er.
    »Sieg!« erwiderte Hael wegwerfend. »Man kann es kaum als Sieg bezeichnen, wenn man einen elenden Schuft während eines miesen kleinen Gerangels umbringt.«
    »Dann gratuliere ich dir, weil du noch am Leben bist. Das ist immer ein Grund zum Feiern. Los, trink aus. Mit wem hätte ich mich jetzt über Geographie unterhalten können, wenn du verloren hättest?« Hael hatte den Mann während der ganzen Reise immer wieder mit Fragen über die benachbarten Länder bedrängt.
    »Mit Agah bestimmt nicht«, antwortete Hael. Er vertraute dem Kartographen seinen Verdacht über Agahs Beweggründe an.
    »Das klingt gar nicht so unwahrscheinlich. Es ist überall und jederzeit möglich, sich Feinde zu machen, und in Kasin ist es ganz besonders schnell geschehen – vor allem, wenn man im Hause eines einflussreichen Mannes lebt. Du bist stetig in Pashirs Achtung gestiegen. Das könnte einen ehrgeizigen Burschen, der vielleicht seit Jahren vor den Mächtigen katzbuckelt, missgünstig stimmen.«
    Hael sprach seinen Verdacht, Pashir selbst könne Agahs Auftraggeber sein, nicht aus. Vielleicht hatte der Edelmann die Wahrheit über ihn und Shazad herausgefunden? Oder, noch schlimmer, vielleicht steckte Shazad hinter der ganzen Sache! Unter Umständen war es ihr jetzt peinlich, das Bett mit einem Ausländer niedriger Herkunft geteilt zu haben. Es gab viele Geschichten über Frauen, die – gleich der legendären Spinne – ihre Liebhaber umbrachten. Wenn er noch länger nachgrübelte, dachte Hael, würde er in Kürze jeden Menschen verdächtigen, mit dem er in letzter Zeit in Berührung gekommen war. Es war besser, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
    »Werden wir lange Zeit am Fuß der Berge überwintern?«
    »Vielleicht zwei oder drei Monate«, antwortete Choula. »Wir werden uns in einer Stadt langweilen, die wenig Abwechslung zu bieten hat.«
    »In dieser Zeit möchte ich von dir lernen«, bat Hael.
    Choula lächelte. »Ich werde dich alles lehren, was ich über dieses Land weiß. Außerdem zeige ich dir, wie man Karten zeichnet.«
    »Ich möchte aber noch viel mehr lernen«, erwiderte Hael mit großem Ernst. »Ich möchte, dass du mir das Lesen beibringst.«

 
KAPITEL NEUN
     
    H ael zügelte sein Cabo auf der Spitze eines Hügels, der am Fuße des Gebirges lag. Ein eigenartiges und befremdliches Gefühl beschlich ihn, verschwand aber so schnell wieder, dass er sich der Ursache nicht bewusst zu werden vermochte. Wenn es das Wetter zuließ, verschaffte er seinem Reittier täglich um diese Zeit Bewegung. Gemäß des Klimas und der Jahreszeit zogen es die meisten Mitglieder der Expedition vor, ihre Unterkünfte nicht zu verlassen, denn es war oftmals bitterkalt und regnete beinahe ohne Unterlass. Hin und wieder fielen auch vereinzelte Schneeflocken.
    Heute hatten sich die dichten Wolken endlich einmal verzogen, und die schneebedeckten Flanken des Berges, der den größten Teil des Horizonts einnahm, leuchteten im hellen Sonnenlicht strahlendweiß. Der Berg lag umgeben von anderen Gipfeln, die sich, so weit das Auge reichte, nach Norden und Süden erstreckten, und gemeinsam bildeten sie während der Wintermonate für jeden nach Osten Reisenden eine unüberwindliche Barriere. Beinahe täglich hörten die Mitglieder von Shongs Karawane das dumpfe Dröhnen, das wie fernes Donnergrollen klang. Es begleitete die Lawinen, bei denen unvorstellbare Schneemassen von den Bergen in die Täler hinabrutschten. Manchmal, wenn Hael sich so weit wie möglich die steilen Hänge emporwagte, glaubte er, menschenähnliche Gestalten wahrzunehmen, die erstaunlich groß und so weiß waren, dass er sie kaum von der Schneedecke unterscheiden konnte. Lautlos wie Geister schritten sie einher, von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Als er sich bei den Einheimischen nach diesen Wesen erkundigte, zuckten sie nur die Achseln und

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