Der Insulaner
ritt, aber niemand sagte ein Wort. Hael nahm an, dass sie große Ehrfurcht vor Naraya hegten und nie auf den Gedanken gekommen wären, ihn unverblümt anzusprechen.
Sie verließen das Amsilager, erreichten den kleinen Fluss, der sich im Bogen um das Dorf herum schlängelte und durchquerten ihn. Sie ritten, bis sie an eine Bodensenke kamen, in der eine Quelle entsprang und einen kleinen See bildete, der von Bäumen umgeben war. Die tief herabhängenden Zweige waren mit Blättern geschmückt, die Hael an Steppengras erinnerten. Sie wuchsen dicht, waren aber schmal und länglich. Die Bäumchen wirkten trotz ihrer schmächtigen Stämme und geringen Größe zäh genug, um in diesem Land, wo oftmals schreckliche Stürme tobten, überdauern zu können.
»Das ist ein heiliger Ort«, begann Naraya. »Wasser ist immer gesegnet, aber die stehenden Gewässer dieser Steppe sind uns heilig. Die Flüsse entspringen an Orten, die uns unbekannt sind und fließen von hier aus in fremde Länder. Doch die Quellen der Steppe gehören uns allein. Ihre Geister sind die unseren. Die Tiere der Steppe stillen hier ihren Durst, und auch ihre Geister sind die unseren. Die Geister des Grases erhalten uns, und sie sind in uns.«
»Mein Stamm besteht aus Hirten«, erklärte Hael. »Ich verstehe, was du über Wasser, Tiere und Gras sagst. Ich kenne mich nicht sehr gut mit Geistern aus, aber ich weiß, dass es sie gibt.«
»Niemand kann die Geister völlig verstehen«, sagte Naraya, »außer, er ist einer von ihnen.«
Sie führten die Cabos zur Quelle und tränkten sie. Das Wasser war so klar, dass sie kleine Fische darin herumschwimmen sahen. »Du erwähntest Geister in Menschengestalt«, meinte Hael. »Davon hat mein Stamm nie erzählt. Wir glaubten, Geister würden uns hin und wieder in Gestalt eines Tieres begegnen, meist aber nur im Traum.«
»Geister können sogar schon vor der Geburt in einen Menschen fahren, und oft ist es der Geist eines Verstorbenen, der große Macht besitzt. Haben dir dein Vater oder deine Mutter nicht von seltsamen Ereignissen erzählt, die deine Geburt umgaben?«
»Mein Vater starb, ehe ich alt genug war, ihn richtig kennen zu lernen«, erklärte Hael verbittert. »Und meine Mutter starb bei der Geburt ihres zweiten Kindes. Sonst gibt es nichts Ungewöhnliches zu berichten. Waisen sind bei meinem Volk nicht sehr beliebt. Meine Pflegeeltern glaubten nie, dass ich ein besonderer Mensch sei. Ganz im Gegenteil. Als ich alt genug war, ein Krieger zu werden, waren sie glücklich, mich loszuwerden.«
»Mit deinen Worten sagst du mehr aus, als dir bewusst ist. Wenn die Mutter stirbt, ehe sie alle notwendigen Schutzrituale vollziehen kann, ist das Kind vielen Geistern ausgeliefert. Wärest du bei uns zur Welt gekommen, hätte ich dich nicht aus den Augen gelassen.«
»Das ist merkwürdig«, fand Hael. »Der einzige, der sich für mich interessierte, war unser Geistersprecher Tata Mal. Er wollte mich anlernen, aber das ist einem Waisenknaben nicht gestartet.«
»Dann sah auch er, was ich sehe. Du bist ein Geistermann. Nicht wie wir, die wir mit den Geistern reden, ihre Gunst zu gewinnen suchen und ihre Wünsche weitergeben. Irgendwie bist du einer von ihnen.«
»Du denkst, dass mich die Geister leiten?«
»Nicht unbedingt leiten, sondern du hast Teil an ihrer Macht. Du bist an sie gebunden, aber ob du nun ihr Werkzeug bist oder sie dir dienen, das weiß ich nicht.«
»Du hast von bösen Geistern gesprochen. Bei uns gab es keine bösen oder guten Geister, sie waren einfach nur da. Sie konnten hilfsbereit sein oder Schaden anrichten, handelten aber aus ihnen eigenen Gründen. Tata Mal sagte, dass nur Menschen gut oder böse sind. Tiere und Geister handeln entsprechend ihrer Natur und nicht wie Menschen. Er meinte, sie hätten kein Interesse an den Menschen, aber ich bin mir da nicht so sicher. Als ich in Neva weilte, unter zivilisierten Menschen, erfuhr ich, dass es gute und böse Götter gibt, aber ich glaube nicht an sie.«
Naraya setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das die Quelle umgebende Gras. Hael folgte seinem Beispiel. Libellen schossen wie winzige Speere über die Wasseroberfläche. Mit leisem Platschen tauchte ein Frosch in die kühlen Fluten.
»In den Städten des Südens reden sie auch von Göttern«, erklärte der Geistersprecher. »Ich habe die Statuen gesehen, große leblose Bilder aus Holz oder Stein. Nicht einmal die ehrlosen Byalla würden sich soweit erniedrigen, derartige Figuren anzubeten. Die
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