Der italienische Geliebte (German Edition)
sich getrennt hatten. Auf dem Boot nach Frankreich hatte er zu ihr gesagt, Wir könnten zusammen verschwinden . Wie wäre es weitergegangen, wenn sie Ja gesagt hätte? Lebten sie dann jetzt vielleicht in Buenos Aires oder Valparaiso, wo er mit irgendwelchen zwielichtigen Geschäften das Geld verdiente, während sie mit einer Gardenie hinterm Ohr am Strand säße und Cocktails tränke? Oder hätte er nach ein, zwei Monaten alles abgeschüttelt, was auch nur im Geringsten nach Dauerhaftigkeit schmeckte, und wäre weitergezogen?
Aber war sie denn so viel anders? Die Frage beunruhigte sie.
Ihre Beziehung mit Angus war drei Monate nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht zu Ende gewesen, als sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Sie hatte ihn geliebt, aber sie hatte ihn nicht genug geliebt. Seither hatte sie verschiedene Affären gehabt – mit einem Soldaten, den sie beim Tanzen kennengelernt hatte, mit einem kanadischen Flieger, mit dem sie eines Tages im Bus ins Gespräch gekommen war –, aber diese Geschichten hatten alle nicht lange gedauert. Der Soldat war nach Devon versetzt und der Flieger über Deutschland abgeschossen worden. Am längsten hatte ihre Beziehung zu einem amerikanischen Journalisten gehalten, der nach London geschickt worden war, um über die Auswirkungen des Krieges auf Großbritannien zu berichten. Er, nicht sie, hatte Schluss gemacht. »Du bist ein nettes Mädchen, Freddie«, hatte er am Ende eines Abends zu ihr gesagt, »und ein sehr schönes dazu, aber ich habe immer das Gefühl, durch eine gläserne Wand mit dir zu reden. Ihr Engländer. Euch berührt anscheinend gar nichts, wie? Es ist beinahe so, als würdest du auf etwas warten, aber ich habe keine Ahnung, worauf. Jedenfalls bestimmt nicht auf mich. Du hast deine Mauern hochgezogen und verteidigst sie mit Zähnen und Klauen.«
Wenn Tessa geglaubt hatte, man dürfe keinesfalls heiraten, hatte sie dann aus dem, was Tessa widerfahren war, den Schluss gezogen, man dürfe vor allem gar nicht erst lieben? Oder war es wirklich so, wie der amerikanische Journalist gesagt hatte, dass sie auf etwas wartete – ein Wiedersehen mit Tessa? –, und dieses Warten und Hoffen sie den größten Teil ihrer emotionalen Kraft kostete?
Es hatte sie getroffen, dass Max nicht gesagt hatte, ›ich liebe Tessa‹, sondern ›ich habe Tessa geliebt‹, so als existierte sie nur noch in der Vergangenheit. Es traf sie, dass Ray, der Tessa einmal geliebt hatte, sie jetzt kaum noch erwähnte. Am schlimmsten traf es sie, dass nach drei Jahren der Trennung die Erinnerung an Tessa immer mehr zu verblassen schien, und selbst sie jetzt, wenn sie versuchte, sich ihre Schwester vorzustellen, immer häufiger die Bilder aus Zeitschriften und Magazinen vor sich sah. So als würde Tessa langsam erstarren, als wäre sie in jenem einen Moment ihres Lebens gefangen und von der Zukunft abgeschnitten.
Wieder dachte sie, dass sie es kaum erwarten konnte, aus London wegzukommen. Sie wollte noch einmal anfangen, neue Menschen kennenlernen, neue Dinge tun. Sie warf die Kapuze ab und rannte die Treppe hinunter zur Untergrundbahn.
12
Maddalena Zanetti saß auf einem Sofa im salotto , dem Salon des Herrenhauses, Olivia neben ihr, während Faustina es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. Guido ging mit seiner kleinen Tochter auf den Schultern im Zimmer auf und ab. Jedes Mal, wenn er unter einem Kronleuchter hindurchging, streckte Luciella die Arme in die Höhe und versuchte, ihn zu berühren. Dann stieß er einen lauten Warnruf aus, und Luciella kreischte vor Vergnügen.
»Sie ist schon ganz überdreht, amore «, sagte Maddalena. »Sie wird ihr Abendbrot nicht essen.«
Guido schwang seine Tochter lachend von den Schultern zu Boden. Tessa setzte sich auf den Teppich neben Luciella und ließ sich von ihr ihr Puppengeschirr zeigen, die winzigen Tassen, Untertassen und Teller aus feinem Porzellan mit einem Blütenmuster, während hinter ihnen ein Gespräch stattfand. Tessa hatte den Eindruck, dass zwischen Guido und seiner Frau Spannungen bestanden, dass da ein Missklang war, der sich bei ihm in Widerspruch auf ihre Worte äußerte und bei ihr in Schweigen auf seine. Die gespannte Atmosphäre war ihr schon früher aufgefallen, als die Familie kurz nach der Ankunft von Guido, Maddalena, dem Kind und der Kinderfrau zu Mittag gegessen hatte. Ja, sagte Maddalena, ihren Eltern gehe es gut. Ja, in der Stadt sei das Leben schwierig im Moment, bei der
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