Der italienische Geliebte (German Edition)
sich Entsetzen über das, was sie getan hatte. Tessa kann sich an den Unfall nicht erinnern, weil sie eine Kopfverletzung hat , hatte Freddie ihr bei der Beerdigung erklärt. Sie kann sich nicht erinnern, warum sie nach Oxford wollte. Vielleicht hatte sie – Rebecca – an dem Tag einen flüchtigen Moment lang geglaubt, Tessa Nicolsons Gedächtnisverlust bedeute ihre Befreiung. Aber wenn, dann hatte sie sich getäuscht. Im Lauf der Wochen hatte sie allmählich erkannt, dass sie gefangen war, in eisernen Ketten, und vielleicht niemals entkommen würde.
Hätte sie bei der Beerdigung mit Freddie Nicolson sprechen sollen? Hätte sie sagen sollen: Ich weiß, warum Ihre Schwester an dem Nachmittag nach Oxford wollte. Der Grund war mein Anruf? Denn das war der unausweichliche Schluss, zu dem sie gelangt war, dass es ihr Anruf gewesen war, der Tessa Nicolson veranlasst hatte, nach Oxford zu fahren, um Milo zur Rede zu stellen. Sie hatte Freddie Nicolson nichts davon gesagt, weil sie zu feige gewesen war. Und wenn sie den Mut aufgebracht hätte, einzugestehen, was sie getan hatte, wäre das dann das Richtige gewesen? Oder hätte es nur ihr selbst Entlastung gebracht, ohne den Schmerz der Nicolson-Schwestern im Geringsten zu lindern?
Auch Milo hatte sie von ihrer Rolle bei den Ereignissen, die zu Tessa Nicolsons Unfall geführt hatten, nichts erzählt. Sie hatte sich eingeredet, dass sie ja gar nicht mit Sicherheit wisse, ob wirklich ihr Anruf Tessa bewogen hatte, an diesem Tag aus London wegzufahren. Es konnte ein ganzes Dutzend anderer Gründe dafür geben, dass Tessa Nicolson an diesem regnerischen Nachmittag auf der Straße nach Oxford unterwegs gewesen war. Vielleicht war gar nicht Oxford ihr Ziel gewesen – es war leicht möglich, dass sie auf dem Weg zu irgendeinem anderen Liebhaber irgendwo in der Nähe gewesen war. Und im Übrigen, hatte sie nicht jedes Recht gehabt, so zu handeln, wie sie es getan hatte? War es nicht eine unverzeihliche Schandtat von dieser Tessa Nicolson gewesen, mit dem Ehemann einer anderen Frau ins Bett zu steigen? Sie hatte sich Milos Seitensprünge jahrelang gefallen lassen – hatte sie etwa nicht das Recht, sich irgendwann zu wehren? Und schließlich war es ja nicht ihre Schuld, dass der Wagen auf der nassen Straße ins Schleudern geraten war.
Und dennoch gelangte sie mit monotoner Unausweichlichkeit immer wieder zu der Gewissheit, die sie quälte, seit Freddie Nicolson ihr von dem Unfall berichtet hatte: dass sie Tessa Böses gewünscht hatte; dass sie sie gehasst hatte; dass Rachsucht und Bosheit sie getrieben hatten, Tessa an jenem regnerischen Nachmittag anzurufen und ihr das Märchen von Milos neuer Affäre aufzutischen.
Milo hatte sich geweigert, zur Beerdigung des Kindes zu gehen. »Aber er war dein Sohn«, hatte sie ihn angeschrien, dass er zusammengezuckt war. »Ich kann nicht«, hatte er gemurmelt. »Ich kann einfach nicht. Denk von mir, was du willst, Rebecca, aber ich kann es nicht ertragen.« In den Wochen danach blieb Milo zu Hause, sagte alle seine Vorlesungen in Oxford wegen Krankheit ab und verließ das Haus nur zu seinen Wanderungen in den Hügeln.
Aber mit der Zeit fand er zu seiner früheren Vitalität zurück. Ein amerikanischer Verlag hatte die Rechte an drei seiner Romane gekauft, und Milo öffnete zur Feier des Tages eine Flasche Champagner. Er nahm die Einladung zu einem Vortrag im Rundfunk an. Niemals erwähnte er sein Kind, niemals sprach er von Tessa.
Rebecca knipste die Taschenlampe an, die Meriel ihr gegeben hatte, und sah auf ihre Uhr. Bald ein Uhr morgens. Sie kannte diese Nächte inzwischen. Die quälenden Gefühle von Schuld und Reue, das Absacken in einen unruhigen Schlaf kurz vor Morgengrauen, die Kraftlosigkeit am nächsten Tag.
London, dachte sie. Ich werde an London denken. An der Vergangenheit kann ich nichts ändern, ich muss in die Zukunft schauen. Ich suche mir eine Bleibe irgendwo in einer hübschen Gegend. Ein Neuanfang, ein neues Leben: Das ist es, was ich brauche. Sie merkte, wie ihr die Lider schwer wurden, wie ihr Herzschlag sich beruhigte.
Sie blieb eine Woche bei Meriel. Milo rief mehrmals an, aber sie lehnte es ab, mit ihm zu sprechen. Dr. Hughes kam, um nach einer erkrankten Schülerin zu sehen. Rebecca erfand taktvoll eine Besorgung, damit Meriel den Tee mit ihm allein trinken konnte. Die Wohnung war zu klein für zwei; Rebecca ahnte, dass sie und Meriel sich früher oder später gegenseitig auf die
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