Der italienische Geliebte (German Edition)
doch draußen. Was redete der Mann da? Aber mit dem Arzt hatte er wahrscheinlich recht.
»Ja. Danke«, sagte sie höflich. »Ich gehe hinein und packe Ihnen ein paar Sachen zusammen.«
In der Küche schlug sie Kräcker, Käse und andere Reste in Pergamentpapier ein. Sie dachte über seine Worte nach. Es ist immer schön, zu Familie und Freunden zurückzukommen. Aber offenbar hatte sie nicht allzu viele gute Freunde, und mit ihrer Mutter verstand sie sich nicht, und Meriel hatte keinen Platz für sie. Und ihr Mann hatte ihr das Herz gebrochen. Beinahe hätte sie wieder zu weinen angefangen, aber sie nahm sich zusammen.
Das Sonnenlicht blendete sie, als sie vors Haus trat, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war der Wanderer nicht mehr da. Sein Stuhl war leer, Wanderstock und Tornister waren verschwunden. Verwundert ging sie zum Tor, um nach ihm Ausschau zu halten. Aber sie sah ihn nirgends. Dann ging sie einmal rund um die Trockenmauer, die das Haus umgab. Das Moorland war flach und baumlos. Sie konnte meilenweit sehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
Vielleicht hatte sie in der Küche länger gebraucht, als sie gedacht hatte, und er hatte keine Lust mehr gehabt zu warten. Zurück am Tor fiel ihr auf, dass in dem Matsch zwischen dem Tor und dem Haus keine Fußabdrücke von ihm zu erkennen waren. Sie sah ihre eigenen Abdrücke, aber keinen von ihm.
In der Küche setzte sie sich an den Tisch und versuchte, aus dieser seltsamen Begebenheit klug zu werden. Ein Wanderer kam an ihre Tür, plauderte ein Weilchen mit ihr und löste sich dann in Luft auf, ohne auch nur einen Fußabdruck zu hinterlassen. War er ihrer Phantasie entsprungen? War sie so krank? Hatte sie Fieberträume gehabt?
Doch seine Worte blieben ihr im Gedächtnis, und da ihr nichts Besseres einfiel, beschloss sie, zu tun, was er gesagt hatte. Sie begann, ihren Koffer zu packen. Zuerst zum Arzt, dann – was hatte er ihr geraten? Hinaustreten. Kompletter Unsinn. Sie musste den Mann geträumt haben.
Sie dachte an den Abend bei Simone Campbell zurück. Mrs. Campbell hatte sie eingeladen, sie zu besuchen. Ich bin gern mit intelligenten Frauen zusammen. Sie hatte den Zettel mit Simone Campbells Telefonnummer in ihre Geldbörse gesteckt – war er dort noch? Ja, klein gefaltet in einer Ecke.
Lange Zeit war sie immer nur weggelaufen, aber jetzt hatte sie den Punkt erreicht, an dem das nicht mehr ging. Sie fühlte sich viel zu schwach für den langen Weg zum Auto und die weit längere Fahrt zurück nach London, aber sie wusste, dass sie es versuchen musste. Sie hatte Schlimmeres überstanden, sagte sie sich – eine lieblose Kindheit und die Ehe mit einem Mann, der sie nie mit der gleichen Hingabe geliebt hatte wie sie ihn. Sie überlegte sich, dass sie an der Telefonzelle im Dorf halten und Simone anrufen würde, um sie zu fragen, ob sie ein, zwei Tage bei ihr bleiben könne. Wenn nicht, würde sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen, aber wenn sie an Simone dachte und wie schnell sie sich bei dem Spaziergang in ihrem Garten verstanden hatten, glaubte sie, dass sie bei ihr wenigstens vorübergehend eine Zuflucht finden könnte.
Als sie das Haus absperrte und sich auf die lange Reise begab, dachte sie wieder, hinaustreten ? Was hatte er nur damit gemeint? Was für ein merkwürdiger Rat.
Und doch, kam es ihr in den Sinn, war sie jetzt hier draußen, in der Sonne und setzte, vom Honigduft des Moors umgeben, einen Fuß vor den anderen. Ab und zu blieb sie stehen, um zu verschnaufen, aber dann ging sie weiter, Schritt für Schritt einem unbekannten Ziel entgegen.
7
Tessa erholte sich nur langsam . Vom ersten Tag an gab sie sich die Schuld an Angelos Tod. Wäre sie eine bessere Mutter gewesen, wäre sie eine bessere Autofahrerin gewesen, wäre sie nicht so dumm und nachlässig gewesen. Trostloses Weinen, das Stunden dauerte, wechselte mit sprachloser Verschlossenheit, die Freddie mehr Angst machte als die Tränen. Oft verkroch sich Tessa in den Monaten nach dem Unfall in ihrem Bett und blieb dort mit geschlossenen Augen, ohne ein Wort zu sprechen, liegen. Früher so unternehmungslustig, wollte sie jetzt keinen Schritt vor die Tür. Ihre Stimmungen wechselten von Tag zu Tag.
Sie war immer schon schlank gewesen, aber jetzt war sie beängstigend dünn und zart. Sie schnitt sich die langen hellen Haare ab und trug sie halblang mit einem Pony, um die zackige rote Narbe auf der Stirn zu
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