Der italienische Geliebte (German Edition)
kaschieren. Obwohl sie sich körperlich erholte, blieb sie in ihrem Wesen verändert. Sie war stiller, nicht mehr so gesellig und neigte weit stärker dazu, sich abzukapseln. Selten sprach sie von Angelo oder ihrem Leben vor dem Unfall. Wenn Freunde zu Besuch kamen, zeigte sie vielleicht ein Lächeln, aber ihr Blick war wie erloschen.
Freddie war zum Ende des ersten Halbjahrs von der Schule abgegangen, alle Studienpläne vergessen. Zunächst nahm sie Gelegenheitsarbeiten an, bei denen sie nur abends gebraucht wurde, sodass sie tagsüber bei Tessa bleiben konnte, während die Freunde ihr abwechselnd an den Abenden Gesellschaft leisteten. Dann stellte Miss Fainlight, mit der Freddie in losem Kontakt geblieben war, die Verbindung zu einer Miss Parrish her, die in Endsleigh Gardens, nahe beim Russell Square wohnte. Miss Parrish engagierte Freddie als ihre Assistentin, und sie arbeitete von nun an für eine Zeitschrift namens ›The Business Girl‹, die Artikel und praktische Ratschläge für die alleinstehende, berufstätige Frau veröffentlichte.
Die Arztrechnungen hatten längst Tessas weniges Geld verschlungen, Schmuck musste verkauft werden. Jeder Penny, den Freddie nach Hause brachte, zählte. Fortan wurden die Strümpfe gestopft, wenn sie Löcher hatten, abgetretene Schuhe zum Schuster gebracht, und Freddie ging, wenn irgend möglich, zu Fuß, um das Fahrgeld zu sparen. Die Wohnung in Highbury hatte sie aufgegeben, als Tessa noch im Krankenhaus lag; sie wusste, dass sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten, und fürchtete, die Erinnerungen, die mit der Wohnung verbunden waren, könnten Tessa quälen. Ray hatte Freddie eine seiner Wohnungen angeboten, mietfrei, aber sie hatte höflich abgelehnt. Sie würden das schon schaffen, sie würden eben vernünftig haushalten. Ihr war klar, dass das in absehbarer Zukunft so bleiben würde, also konnten sie sich auch gleich daran gewöhnen. Tessa würde nie mehr als Mannequin und Fotomodell arbeiten; es war sogar möglich, dass sie überhaupt nicht wieder arbeiten würde. Immerhin nahm Freddie Rays Angebot an, sich bei der Suche nach einem neuen Zuhause helfen zu lassen, und er hatte in South Kensington etwas für sie aufgetrieben. Die neue Wohnung, in der zweiten Etage eines großen Gebäudes georgianischen Stils, war viel kleiner als die in Highbury, nur zwei Zimmer und ein gemeinsames Bad, aber sie war hell und sonnig und hatte einen hübschen Blick auf grüne Gärten.
Ende August entführte Ray Tessa auf eine Reise nach Südfrankreich. Ansichtskarten von Zwischenaufenthalten auf der gemächlichen Fahrt durch Frankreich trafen ein. Je weiter südlich die Orte auf den Ansichtskarten lagen, so schien es Freddie, desto öfter blitzte in den kurzen Mitteilungen etwas von der alten Tessa auf. Ein Anflug von Humor in der Beschreibung eines amerikanischen Ehepaars, dem sie in Lyon begegnet waren, und, aus Marseille, die Karikatur einer eleganten Französin mit einem Zwergpudel in der Handtasche. Auf einer Karte aus Nizza war eine weitere kleine Zeichnung, von Ray, fest schlafend in einem Liegestuhl am Strand, einen Strohhut über das Gesicht gekippt.
Zum ersten Mal seit einem halben Jahr wagte Freddie zu hoffen. An dieser Hoffnung hielt sie beharrlich fest, trotz der sich zuspitzenden politischen Situation, trotz der allgemeinen Angst während der Sudetenkrise, als Europa am Abgrund eines Krieges stand. Sie klammerte sich daran, als in den Londoner Parks Gräben ausgehoben wurden und auf den Dächern hoher Gebäude Fliegerabwehrkanonen wie dicke schwarze Krähen hockten, als Neville Chamberlain Ende September nach München flog und bei seiner Rückkehr auf dem Flughafen Croydon triumphierend das Blatt Papier schwenkte, das, wie er behauptete, »Frieden in unserer Zeit« garantierte.
Die ersten Herbstnebel fielen Anfang November sachte und grau über die Stadt. Freddie nahm nach der Arbeit die Untergrundbahn nach South Kensington und ging den Rest des Nachhausewegs zu Fuß, immer wieder mit der Hand nach einer Hausmauer oder einem Geländer tastend, als wollte sie sich vergewissern, dass hinter dem Schleier die Gebäude noch vorhanden waren.
Sie hatte gerade ihre Schlüssel aus der Tasche geholt, als sie hinter sich eine Autotür zuschlagen hörte. Sie drehte sich um. Ray kam aus dem Nebel auf sie zu.
»Ihr seid wieder da! Oh, Ray! Wie geht es dir?« Freddie spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Nebel. »Wo ist Tessa?«
»In Italien«,
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