Der italienische Geliebte (German Edition)
doch Tessa. Sie tut, was sie tun will, und keiner kann sie umstimmen. Was hast du gemacht, als sie weg war?«
»Ich bin zum Bahnhof gerannt. Ein junger Kerl am Schalter erinnerte sich an sie.« Er lächelte schief. »Typisch Tessa, nicht? Sie vergisst so leicht keiner. Als er mir sagte, dass sie eine Karte nach Genua gelöst hatte, beschloss ich sofort, hinterherzufahren und in Genua nach ihr zu suchen, um sie doch noch zur Vernunft zu bringen.«
»Und? Hast du sie gefunden?«
»Nein. Ich bin nie bis Genua gekommen.« Ray war voller Zorn. »Dieser verdammte Grenzbeamte war so unverschämt, dass ich ihm vor Wut beinahe eine verpasst hätte. Der Kerl wollte mir weismachen, mit meinem Pass stimmte etwas nicht – kapitaler Mist, der Pass ist völlig in Ordnung, der Bursche wollte sich nur wichtig machen. Also bin ich nach Menton ins Hotel zurückgefahren. Der Concierge war ein netter Mensch, er hat ein halbes Dutzend Hotels in Genua für mich angerufen. Nichts. Sie kann überall sein, Freddie.« Ray schwieg stirnrunzelnd. Dann sagte er: »Sie wollte nicht gefunden werden. Ich habe darüber nachgedacht, und ich weiß, dass sie nicht gefunden werden wollte. Ich hatte vor, sie noch einmal zu bitten, mich zu heiraten. Wie dämlich kann man eigentlich sein, hm?«
Bald danach verabschiedete sich Ray. Das will ich jetzt , hatte Tessa geschrieben. Ich will nach Hause . Wie lange hatte sie schon daran gedacht, nach Italien zurückzukehren? War es ein spontaner Entschluss gewesen oder hatte sie sich schon längere Zeit mit dem Gedanken getragen?
Freddie kam plötzlich eine Idee, ein Verdacht. Sie ging ins Schlafzimmer und zog die Schublade auf, in der Tessa ihren Schmuck verwahrte. Unter den klimpernden Armreifen und Cocktailringen stand das Lederkästchen mit dem Granatschmuck ihrer Mutter. Mit einem bangen Gefühl klappte Freddie den Deckel hoch, und da lagen die Steine mit ihrem dunkelroten geheimnisvollen Feuer. Ach Tessa, dachte sie. Von all ihren Schmuckstücken war Tessa das Granatcollier das teuerste gewesen. Andere Halsketten und Colliers hatte sie verkauft, um die Miete und die Arztrechnungen bezahlen zu können, aber nicht den Granatschmuck ihrer Mutter. Niemals hätte Tessa vergessen , ihn mitzunehmen. Hatte sie ihn ihr dagelassen, sozusagen als Trost? Oder vielleicht als Versprechen, dass sie doch eines Tages wiederkommen würde?
Während Freddie sich ihr Abendessen machte, dachte sie über Tessas Brief an Ray nach. Ich will nach Hause , hatte sie geschrieben. Aber wo war dann Freddies Zuhause? Welchen der zahllosen Orte, an denen sie seit ihrer Geburt gelebt hatte, konnte sie wahrhaft so nennen?
Ende November zog Rebecca auf den Mayfield-Hof. Das Anwesen, ein weitläufiger Komplex roter Backsteinbauten mit roten Schindeldächern, lag auf einem Hügelrücken im High Weald südlich von London, knapp zehn Kilometer von Tunbridge Wells entfernt. Es gehörte David und Carlotta Mickleborough. Davids Landschaftsbilder schmückten die Wände des Wohnhauses. Er hatte in Spanien gelebt, als der Bürgerkrieg ausgebrochen war, und sich den internationalen Brigaden angeschlossen, die aufseiten der spanischen Republik kämpften. Als er 1937 verwundet worden war, kehrten er und seine Frau mit den beiden kleinen Söhnen Jamie und Felix nach England zurück und kauften den Mayfield-Hof.
David Mickleborough war ein Freund von Simone Campbell. Rebecca hatte über einen Monat bei Simone gewohnt, während sie sich von der schweren Bronchitis erholt hatte. Sobald sie sich wieder gesund gefühlt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie sich eine dauerhaftere Bleibe suchen musste, und Simone hatte den Mayfield-Hof vorgeschlagen. »Die meisten der Leute, die dort leben, sind Künstler«, hatte Simone ihr erzählt. »Als Miete für ihre Werkstätten helfen sie auf dem Hof. Alle packen mit an – sie essen zusammen und greifen zu, wo es gerade nötig ist. Es ist alles ziemlich einfach und primitiv, aber die Landschaft ist ein Genuss, und für dich wäre es eine Chance, in Ruhe darüber nachzudenken, was du anfangen willst.«
Rebecca fand, es höre sich fürchterlich an, aber aus Höflichkeit hielt sie den Mund. Außerdem – hatte sie denn eine Wahl? »Ich kann’s ja mal versuchen«, sagte sie und weil sie fürchtete, brummig geklungen zu haben, fügte sie hastig hinzu: »Danke, Simone. Das ist wirklich nett von dir.«
In den Tagen vor ihrem Umzug auf den Mayfield-Hof brachte sie zum Dank in einer
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