Der Jadereiter
Schaufenster auszustellen. Sehen Sie sich den kauernden Nephrit-Drachen an – nur ein großer Künstler ist in der Lage, den Drachen in dem groben Stein zu erahnen. Auch die Chatelaine ist beeindruckend und diese Plakette mit den Pfingstrosen. Der Mann ist mehr als ein Sammler, er ist der Kurator seines eigenen Museums.« Sie geht wieder zum mittleren Teil des Schaufensters zurück. »Aber der Tiger ist trotzdem das beste Stück in der Auslage, Weltklasse, das Jadeäquivalent der Mona Lisa – wenn man die Mona Lisa mag, was ich nicht tue. Und da beruft er sich auf seine chinesischen Verbindungen: Betrachten Sie doch mal die Kalligraphie an der Wand mit dem chinesischen Zeichen yú. «
»Und?«
» Yú ist das Mandarin-Wort für Jade. Da die Chinesen sie entdeckt haben, könnte man sagen, daß das die ursprüngliche Bezeichnung ist. Die drei Zeilen darunter bedeuten ›Tugend, Schönheit und Seltenheit‹, das sind die drei Eigenschaften der Jade nach Ansicht von Konfuzius.«
»Sehen Sie das Stück da drüben im Regal?« frage ich und deute ins Innere des Ladens.
»Mein Gott …«
»Vielleicht ist es nicht dasselbe.«
»O doch.«
Der Jadereiter.
Während wir in einem kleinen Café im unteren Teil des Gebäudes auf die Öffnung des Geschäfts warten, sagt Kimberley Jones: »Ich habe es einmal mit der Liebe versucht, wirklich. Die Leute reden so viel darüber, da denkt man, man muß es auch mal probieren. Aber ich glaube, in den Staaten haben wir das Stadium hinter uns. Ein bißchen ist das wie in der ersten Phase der Industrialisierung: Da gibt’s noch die lebenslange Ehe wie in den Agrargesellschaften. In der nächsten Phase heiraten die Leute in dem Bewußtsein, daß sie sich wieder scheiden lassen. Noch eine Phase weiter heiraten sie, weil sie sich scheiden lassen. Im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts schließlich ist die Liebe nur noch ein leuchtender Punkt auf dem Karrierepfad, eine Erklärung dafür, warum man eine Woche lang zu spät zur Arbeit gekommen ist. Die traurige Wahrheit sieht folgendermaßen aus: Die Liebe läßt sich nicht mit Freiheit, Geld und Gleichheit vereinbaren. Wer möchte wirklich sein ganzes Leben lang mit einem Gleichberechtigten zusammensein? Menschen sind Raubtiere, sie lieben die Jagd und fressen den Schwächeren, um sich stark fühlen zu können. Wie sieht das bei Ihnen aus?«
Die Frage überrascht mich, nicht nur deshalb, weil Kimberley Jones wieder die Hand auf meinen Oberschenkel legt. Diesmal ist die Geste unmißverständlich; vermutlich gehören ihre Ausführungen über Raubtiere zum Vorspiel. Ich kann mein Minderwertigkeitsgefühl angesichts meines schlecht geschnittenen Khakihemds, meiner schrecklichen Hose und der furchtbaren, amboßförmigen Schuhe nicht verbergen. Eigentlich sollte ich ihre Hand von meinem Oberschenkel nehmen, um klarzustellen, daß ich nicht aufgefressen werden möchte, aber statt dessen suche ich nach einer passenden Antwort. Ich muß an Kat denken, als ich sage: »Manche Menschen verschenken ihr Herz nur einmal. Wenn sie in der Liebe scheitern, wählen sie sich eine Beschäftigung, die ihre Verbitterung ausdrückt.«
Kimberley Jones hebt die Augenbrauen. »Und das haben Sie getan? Sie sind Menschenjäger geworden, weil Ihre große Liebe Sie verraten hat?« Ich warte auf einen zynischen Nachsatz, doch der kommt nicht. Sie murmelt:
»Da haben Sie recht.« Dann nimmt sie die Hand von meinem Oberschenkel. Kimberley Jones ist keine Buddhistin, weswegen ich ihr den endlosen Kreislauf der Leben nicht erkläre, von denen jedes eine Reaktion auf eine Unausgewogenheit im vorhergehenden ist, wobei diese Unausgewogenheit wieder zu einer neuen führt und so weiter und so fort … Wir sind der Spielball der Ewigkeit.
Um zwanzig nach elf fahren wir wieder mit der Rolltreppe hinauf. Das präindustrielle Gefühl der Erwartung in meinem Magen, die köstliche Ahnung eines gefährlichen Karma, überrascht mich.
Sie reinigt einen lebensgroßen stehenden Buddha aus Ayutthaya mit einem Staubwedel. Ein Gong ertönt, als wir die Schwelle überschreiten, und sie wendet sich uns mit einem höflichen Lächeln zu. Sie trägt eine schlichte weiße Leinenbluse von Versace mit offenem Kragen, der Verletzlichkeit suggeriert, sowie einen mehr als knielangen schwarzen Rock, vermutlich ebenfalls von Versace. Ihre Perlenkette ist deutlich größer als die der FBI-Frau, aber am stärksten bringt mich ihr Parfüm aus der Fassung: Es ist von Van Cleef & Arpels,
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