Der Jäger
Fingernägel und antwortete: »Mein Mann hat weiter an seinem neuen Buch geschrieben, ich war viel unterwegs, war am Montag und gestern im Fitnesscenter, die Polizei war vorgestern bei meinem Mann, und ich habe mich immer und immer wieder gefragt, wie das Leben weitergehen soll. Ich bin sechsunddreißig, ich habe vermutlich noch viele Jahre vor mir, aber ich will sie nicht länger so verbringen wie bisher.«
Sie stand auf und stellte sich wie so oft ans Fenster und blickte hinaus in den herbstlichen Garten, der sich jetzt dem Grau des Himmels angepasst hatte. Die immer kahler werdenden Bäume verloren Blatt um Blatt, und es war nur eine Frage von wenigen Tagen, bis sie wie hölzerne Mumien waren, die auf den Winter warteten, der vermutlich auch in diesem Jahr nicht kommen würde. Vielleicht dann und wann ein paar Schneeflocken, aber Viola Kleiber hatte nicht vor, den Winter in Deutschland zu verbringen, sie würde im Dezember, sobald ihr Mann sein Buch zu Ende geschrieben hatte, in ihr Haus an der Algarve fahren und erst irgendwann im März wieder zurückkommen.
»Was wollte die Polizei von Ihrem Mann?«, fragte Richter.
»Nichts weiter. Sie wollten nur wissen, wie gut er Carola Weidmann und eine gewisse Frau Kassner gekannt hat. Es war unwichtig. Sie überprüfen im Moment alle Personen, die in irgendeiner Weise mit ihnen zu tun hatten. Mein Mann sagt zwar, ich würde Frau Kassner kennen, aber ich kann mich beim besten Willen nicht an sie erinnern. Die Weidmanns kenne ich natürlich, und Sie kennen sie auch. Es ist tragisch, wenn ein junger Mensch so plötzlich und scheinbar sinnlos aus dem Leben gerissen wird. Aber wer kann schon bestimmen, wann die Zeit zu gehen gekommen ist?«
»Ich habe Frau Kassner auch gekannt«, sagte Richter, woraufhin Viola Kleiber ihn mit seltsamem Blick ansah.
»Was heißt das, Sie haben sie auch gekannt?«
»Und Sie tun das auch, da bin ich ganz sicher. Ich kann Ihnen sogar ein Foto von ihr zeigen, Sie werden sie bestimmt wieder erkennen.«
»Woher sollte ich sie denn kennen?«
»Frau Kassner war verschiedentlich Gast bei den Maibaums, den van Dycks, bei Ihnen, bei mir und einigen anderen. Warten Sie, ich hole das Foto.« Er ging zu seinem Aktenkoffer und kam kurz darauf zurück. Viola Kleiber nahm das Bild in die Hand und betrachtete es ausgiebig.
»Ach so, diese junge Dame. Natürlich kenne ich sie. Aber ich kann mir Namen nur sehr schlecht behalten. Doch das Gesicht ist unverwechselbar. Wie alt war sie?«
»Fünfundzwanzig. Sie ist sehr früh und sehr grausam gestorben …«
»Haben Sie sie gut gekannt?«, unterbrach sie ihn.
»Nein, nur vom Sehen. Wir haben uns einmal kurz unterhalten, das war alles.«
Viola Kleiber reichte ihm das Bild zurück, Richter steckte es in die Akte.
»Und wieso haben Sie ein Foto von ihr?«, fragte sie neugierig.
»Ich wurde von der Polizei gebeten, ein Täterprofil zu erstellen, das ich heute Nachmittag präsentieren werde. Mal sehen, ob die was damit anfangen können.«
»Was heißt das, ein Täterprofil?«
»Das ist nichts anderes als ein psychologisches Profil des Mörders. Aus den Berichten der Rechtsmedizin, der Spurensicherung und den Fotos, die am Tatort gemacht wurden, lassen sich eine Menge Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Mörders ziehen.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich auch mit solchen Dingen beschäftigen. Es ist bestimmt interessant, oder?«
Richter zündete sich lächelnd eine Zigarette an. »Sagen wir es so, es ist eine angenehme Abwechslung und vor allem eine Herausforderung. Ein gutes Täterprofil kann Gold wert sein. Dadurch wird der Kreis der in Frage kommenden Personen erheblich eingeengt. Es gibt in den letzten Jahren vor allem in den USA immer mehr Fälle, die durch die gute Arbeit von so genannten Profilern aufgeklärt wurden. Man muss sich in die Psyche des Täters hineinversetzen können. Wenn ich die Tatortfotos sehe und die dazugehörigen Berichte lese, muss ich versuchen, eine Art Kontakt zum Täter aufzunehmen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber es ist wichtig, seine Handlungsweise nachvollziehen zu können. Es ist nicht so, dass ich herauszufinden versuche, wen er als Nächstes umbringen will, sondern ich muss von der Tat zurückgehen zum Täter. Auch wenn ich sein Gesicht nicht sehe, so sehe ich doch seine Persönlichkeit. Denn das Täterverhalten spiegelt die Täterpersönlichkeit wider. Und darauf kommt es letztendlich bei einem Profil an.«
»Und Sie sind sicher, das
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