Der Jäger
sämtliche Unterlagen in seinen Aktenkoffer. Um Viertel vor zehn klingelte das Telefon, Claudia van Dyck.
»Hallo, ich bin’s, Claudia. Ich wollte mich nur mal melden und hören, wie es dir geht.«
»Gut. Aber …«
»Ich sehne mich nach dir«, hauchte sie ins Telefon. »Du fehlst mir sehr. Können wir uns heute Abend sehen? Ich ziehe auch etwas ganz Ausgefallenes an. Du wirst es nicht bereuen.«
»Nein, heute geht es nicht. Ich bin ab zwei außer Haus, und es kann sehr spät werden«, antwortete er.
»Du klingst so abweisend. Was ist los mit dir? Hab ich dir irgendwas getan?«
»Nein, es hat nichts mit dir zu tun«, log er. »Lass uns doch morgen telefonieren, ich habe gleich eine Patientin. Bis morgen.«
»Warte, leg noch nicht auf. Ich muss dir noch was sagen. Ich liebe dich, und das weißt du. Und ich könnte es nicht ertragen, wenn du mich wegstößt. Ich habe die Wohnung doch extra für uns gekauft.«
»Aber wir hatten abgemacht, nie über Liebe zu sprechen. Und ich möchte dich bitten, dich an diese Abmachung zu halten.«
»Das kann ich nicht. Nicht mehr. Ich kann nichts gegen meine Gefühle tun. Dazu müsstest du mich schon töten. Wir beide sind füreinander geschaffen, merkst du das denn nicht? Wir beide könnten die Welt aus den Angeln heben!«
»Niemand kann die Welt aus den Angeln heben, Claudia. Das sind nur pubertäre Phantasien. Und wir beide würden über kurz oder lang scheitern. Eine Beziehung nur auf Sex aufzubauen ist ein sehr wackliges Fundament.«
»Du hast alle deine Beziehungen auf Sex aufgebaut, und alle sind in die Brüche gegangen. Wie lange gibst du dir und Susanne noch? Einen Monat, zwei? Oder ein Jahr? Oder ist sie so einephantastische Frau, dass du für den Rest deines Lebens mit ihr zusammen sein willst?«, fragte sie mit beißender Stimme. »Susanne mag zwar gut aussehen, aber sie ist nicht gerade die Hellste. Das hast du mir selbst gesagt, und ich habe mir erlaubt, es zu überprüfen, und kann es nur bestätigen. Also ist auch das nur eine sexuelle Beziehung. Kann sie so grandios vögeln, dass du alles andere darüber vergisst?«
»Du vergreifst dich im Ton, Claudia …«
»Oh, entschuldige, großer Meister, wenn ich dir auf den Schlips getreten bin. Aber erzähl mir nicht, du würdest sie lieben. Sie ist eine …« Claudia van Dyck stockte, er hörte nur ihr Atmen.
»Was ist sie? Komm, sag’s«, forderte Richter sie auf.
»Du weißt, was mit ihr ist, ich brauch es dir nicht extra zu sagen. Und über kurz oder lang wird es ihr das Genick brechen. Denk an meine Worte. Und vergiss nicht, egal, was du tust, ich werde dich immer lieben. Du bist ein Teil von mir. Mit dir kann ich über alles reden, mit dir kann ich bumsen, mit dir kann ich alles machen. Ich fühl mich einfach wohl in deiner Nähe.«
Ich mich aber nicht mehr in deiner, dachte Richter, hielt sich jedoch zurück, den Gedanken auch auszusprechen. »Ich glaube, wir sollten das Gespräch jetzt besser beenden. Lass uns morgen telefonieren, einverstanden?«
»Du willst mich los sein, das spüre ich. Aber so leicht gebe ich mich nicht geschlagen. Meine Liebe kann sehr, sehr stark sein. Und ich lasse mich nicht gerne zurückweisen. Merk dir das.« Sie legte auf, ohne eine Erwiderung von Richter abzuwarten.
Er hielt den Hörer noch einen Moment in der Hand. Dann zündete er sich eine Zigarette an, ging ans Bücherregal, holte einen Wälzer über Kindheitstraumata heraus. Er blätterte zu einem bestimmten Kapitel, wollte gerade anfangen zu lesen, als die Türglocke anschlug. Er warf einen Blick auf die Uhr.
Viola Kleiber.
Sie schenkte Richter ein undefinierbares Lächeln, ging mit ihremtypisch stolzen und gleichzeitig graziös lasziven Gang an ihm vorbei und setzte sich in ihren Sessel. Sie trug diesmal Jeans und eine weiße Bluse, die ihren braunen Teint noch stärker zur Geltung brachte. Richter nahm ihr gegenüber Platz, den Block auf seinen Oberschenkeln.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte er und beobachtete sie aus dem Augenwinkel.
»Sie stellen mir fast immer dieselbe Frage. Ist das eine Angewohnheit von euch Psychologen oder reine Höflichkeit? Was soll ich darauf antworten? Gut, schlecht, mittelmäßig? Sagen wir mittelmäßig. Es hat sich nichts verändert.«
»Gut, ich werde diese Frage in Zukunft nicht mehr stellen, wenn Sie es wünschen. Dann sagen Sie mir doch einfach, wie es Ihnen in den letzten Tagen ergangen ist.«
Viola Kleiber lächelte wieder, betrachtete ihre zartrosa lackierten
Weitere Kostenlose Bücher