Der Jäger
»Mir kommt da ein ganz fieser Gedanke. Ich schäme mich fast, ihn zu denken. Aber was, wenn Richter …?«
Hellmer tippte sich an die Stirn. »Bist du bescheuert?«, erwiderteer leise. »Richter hat uns das Täterprofil erstellt! Ausgerechnet er!«
»Es gibt nichts, was es nicht gibt. Und wie hat er so schön gesagt, die menschliche Psyche und das Verhalten hat sich in den letzten Jahren verändert. Ich werde ihn auf jeden Fall fragen, wie seine Nummer auf ihr Display kommt.«
»Du verrennst dich da in etwas. Pass bloß auf, dass du nichts Falsches sagst.«
»Im Augenblick können wir gar nichts Falsches sagen. Vielleicht hat der Täter dieses eine Mal den entscheidenden Fehler gemacht.«
»Aber sie hat ihn angerufen und nicht umgekehrt.«
»Na und? Richter hat auf alles geachtet, nur nicht darauf, die Nummer zu löschen.«
»He, täusch ich mich, oder willst unbedingt auf Gedeih und Verderb jemanden haben? Ich sag dir nur, pass auf, was du tust. Wir werden vielleicht noch des Öfteren auf Richter angewiesen sein. Aber bitte, mach, was du willst. Doch lass mich um Himmels willen da raus. Richter ist kein Killer, und diesmal verlass ich mich auf meinen Bauch.«
»Wie du meinst.« Sie legte den Hörer wieder auf den Frisiertisch und stellte sich neben Morbs. »Und? Wie lange ist sie schon tot?«, fragte sie und ließ ihren Blick über die jetzt nackte Jeanette Liebermann gleiten. Das Blut an der Stelle, wo sich bis vor wenigen Stunden noch die Brustwarzen befunden hatten, war getrocknet, die Wunden verkrustet. Die deutlich sichtbaren Hämatome an den Brüsten, den Armen und am Bauch zeugten von den heftigen Schlägen, die ihr zugefügt worden waren. Trotz allem wirkte ihr Gesichtsausdruck entspannt.
»Kleinen Augenblick«, sagte Morbs. Er zog das Thermometer aus dem Anus und warf einen Blick darauf. »26,3 Grad. Es ist ziemlich warm hier drin, deshalb würde ich schätzen, dass sie seit etwa zehn bis zwölf Stunden tot ist. Die Leichenstarre hatvoll eingesetzt, Leichenflecken nicht mehr verlagerbar. Die Leichenstarre kann allerdings auch kataleptisch sein, das heißt, sie hat sofort bei Eintreten des Todes eingesetzt …«
»Und was heißt das im Klartext?«, wurde er von Durant unterbrochen.
»Wie es aussieht, hat sie, genau wie die andern auch, lange vor dem Tod schwerste körperliche Schmerzen durchlitten und war schon vor Eintritt des Todes extrem erschöpft. Durch diese extreme Erschöpfung ist ein ATP-Mangel entstanden. Aber ich möchte Ihnen jetzt keinen medizinischen Vortrag über Adenosintriphosphorsäuren halten. Es hat etwas mit dem Stoffwechsel zu tun. Bei den andern Opfern handelte es sich übrigens ebenfalls um eine kataleptische Leichenstarre, was ich aber auch in den jeweiligen Berichten vermerkt habe. Und im Prinzip ist es nicht weiter von Bedeutung. Es zeigt nur, dass sie vor ihrem Ableben im wahrsten Sinn des Wortes die Hölle auf Erden durchgemacht haben.«
»Öfter mal was Neues. Kataleptische Totenstarre, nie gehört. Sonst noch was?«
»Nein, ich lasse sie gleich in die Rechtsmedizin bringen. Sie haben sicher noch genug andere Sachen zu tun.«
Morbs sprach seine ersten Eindrücke auf Band, Durant und Hellmer gingen aus dem Haus und überließen es der Spurensicherung.
»Und jetzt?«, fragte Hellmer. »Willst du dir wirklich Richter vorknöpfen?«
»Klar, warum nicht? Schließlich hat er jeweils, kurz bevor die beiden letzten Frauen umgebracht wurden, Kontakt zu ihnen gehabt. Und dafür möchte ich eine Erklärung von ihm. Du musst ja nicht unbedingt mitkommen, wenn du Schiss hast.«
»Quatsch! Natürlich komme ich mit.«
Auf der Straße hatte sich mittlerweile eine riesige Menschentraube gebildet. Auf dem Weg zu ihren Autos wurden die Kommissareimmer wieder von Reportern nach Einzelheiten befragt, gaben aber keine Auskünfte. In ihrem Wagen rief Durant von ihrem Handy aus bei Richter an. Er war zu Hause, seine Stimme klang müde und schwer.
Samstag, 12.45 Uhr
Richter machte einen übernächtigten Eindruck, als er die Tür öffnete, und hatte eine Alkoholfahne. Er bat die Kommissare ins Haus. Sie gingen in sein Arbeitszimmer, er schloss die Tür hinter sich und deutete wortlos auf die Sessel. Er selbst blieb stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit energieloser Stimme.
»Professor Richter, Sie kennen doch Jeanette Liebermann?«, sagte Durant und beobachtete Richters Reaktion.
Er nickte. »Ja, warum?«
»Frau
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