Der Jäger
ausdrücklich darauf bestanden, dass, sollte ihr etwas zustoßen, dieses Testament der Polizei übergeben werden soll. Warten wir mal ab, was drin steht.«
»Da bin ich allerdings gespannt. Moment, wir haben jetzt halb neun … Das müssten wir eigentlich schaffen. Das will ich mir nicht entgehen lassen. Komm, Frank, beeilen wir uns.«
Montag, 10.00 Uhr
Viola Kleiber.
Sie stand pünktlich um zehn vor der Tür. Richter, der seit acht Uhr in seinem Büro war und ein Kapitel seines neuen Buches überarbeitete, erhob sich und öffnete ihr. Sie war eine schöne Frau, die schönste, der er je begegnet war, doch an diesem Morgen war diese Schönheit noch schöner, die Anmut ihrer Bewegungen noch anmutiger, ihr Lächeln noch eine Spur mystischer. Ihr dunkles Haar glänzte seidig, ihr Duft verbreitete sich wie unsichtbare Schwingungen im ganzen Raum. Sie trug einen dunkelblauen, knapp über dem Knie endenden Rock, eine hellblaue Bluse mit einem tiefen Ausschnitt, der den Ansatz ihrer wohl geformten Brüste erkennen ließ, als sie sich kurz nach vorn beugte, um sich eine Zigarette aus ihrer Tasche zu holen. Sie schlug die Beine übereinander, hielt das goldene Feuerzeug an die Zigarette. Ein melancholischer Zug zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.
»Da bin ich, Professor. Wir können gleich anfangen. Ich habe eine Menge zu erzählen.«
»Darf ich Ihnen vorher etwas zu trinken anbieten?«
»Nein danke. Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen, ich möchte es hinter mich bringen.« Sie hielt inne, rauchte, wirkte auf einmal nervös, stand auf und stellte sich wie so oft, wenn sie bei ihm war, ans Fenster und schaute hinaus in den Garten, der grau und trist wie der beginnende November wirkte.
»Im traurigen Monat November war’s«, sagte sie leise und fügte hinzu, »ich liebe die Gedichte und Geschichten von Heine. Und jetzt haben wir November, den Monat der Depressionen. Ist es nicht so?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Nur für manche Menschen. Stimmt dieser Monat Sie depressiv?«
»Nicht mehr als andere Monate auch. Ich komme damit zurecht. Aber ich hatte Ihnen versprochen, heute mit Ihnen über meinProblem zu reden. Ich habe das ganze Wochenende mit mir gerungen, ob ich es tun soll oder nicht, und ich habe mich entschieden, es zu tun. Irgendwann muss es raus. Ich weiß nur nicht, wie ich es anfangen soll. Können Sie mir nicht helfen?«
»Es hat mit Ihrer Ehe zu tun, so viel weiß ich inzwischen. Was ich allerdings nicht weiß, wo genau Ihr Problem liegt.«
Viola Kleiber drehte sich um, drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich eine neue an. Sie neigte kaum merklich den Kopf zur Seite, sah Richter an, ihr Blick schien durch ihn hindurchzugehen.
»Ich habe ständig das Gefühl, als würde etwas in mir brodeln. Manchmal möchte ich schreien, so laut, dass jeder es hören kann, aber ich schaffe es nicht. Ich setze mich ins Auto, fahre ziellos durch die Gegend, will schreien, einfach nur schreien, aber es klappt nicht.«
»Warum wollen Sie schreien?«, fragte Richter behutsam.
Sie lachte kurz und trocken auf, gewürzt mit einer Prise Bitterkeit. »Tja, warum will ich schreien?«
Ihre Traurigkeit wurde noch ein wenig trauriger, ihre Melancholie noch etwas melancholischer, ihr verzweifelter Blick noch ein wenig verzweifelter. Sie machte eine lange Pause, während der sie ihre Gedanken zu ordnen schien.
»Es geht um meine Ehe. Sie können sich nicht vorstellen, was es heißt, mit einem Mann verheiratet zu sein, den man liebt, der aber scheinbar nichts im Kopf hat als seine Bücher. Ich habe ihn geheiratet, weil ich ihn geliebt habe und er mir das Gefühl gegeben hat, mich auch zu lieben. Bei ihm hatte ich zum ersten Mal das Empfinden, als würde mich jemand so akzeptieren, wie ich bin. Aber ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass es eine sehr einseitige Liebe ist. Und wenn ich dann auch noch erfahre, dass er eine Geliebte hat, oder besser gesagt hatte, dann wird das für mich noch unerträglicher. Das ist mein Problem.«
»Sie
haben
ihn geliebt. Lieben Sie ihn denn jetzt nicht mehr?«
Sie seufzte auf. »Doch, ich liebe ihn noch. Aber ich weiß nicht, wie lange ich diesen Zustand noch aushalte. Er ist da und doch nicht da. In den Momenten, in denen ich ihn am dringendsten brauche, entzieht er sich mir. Es ist, als ob man einen Fisch mit der Hand fangen wollte. Und dann ist da dieser Gedanke, dass er mich nicht liebt. Ich spüre nicht einmal so etwas wie Begehren von seiner Seite. Wir reden
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