Der Jäger
miteinander, wir essen zusammen, manchmal gehen wir ins Kino oder in ein Restaurant, wir fahren in Urlaub, aber er gibt mir nie das Gefühl, wirklich etwas für mich zu empfinden. Und das macht mich krank. An manchen Tagen sitze ich einfach nur in meinem Zimmer und heule mir die Seele aus dem Leib.« Sie stockte, zitterte kaum merklich.
»Sie haben eben auch erwähnt, dass er eine Geliebte hatte. Woher wissen Sie das?«
Viola Kleiber seufzte erneut auf. »Ich habe ihm eigentlich immer vertraut. Bis vor etwa anderthalb Jahren. Er hat nie oder nur selten das Haus verlassen, und wenn, dann war ich meist dabei. Und plötzlich musste er ständig weg. Mal was besorgen, sich mit einem Bekannten oder seinem Verleger treffen, er hatte immer eine Ausrede. Bis ich ihm eines Tages gefolgt bin. Tja, und da habe ich es dann mit eigenen Augen gesehen.« Sie schaute zur Decke, ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen, eine weinende Pharaonin. »Er hat ihr sogar eine Wohnung gekauft. Aber jetzt ist sie tot. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass am Dienstag die Polizei bei uns war und meinem Mann wegen dieser Judith Kassner ein paar Fragen gestellt hat.« Sie verzog die Mundwinkel. »Ich habe Ihnen gesagt, ich hätte sie nicht gekannt, in Wirklichkeit habe ich sie doch gekannt, sie war die Geliebte meines Mannes. Es tut mir Leid, dass ich Sie angelogen habe, aber ich war am Donnerstag noch nicht so weit, es jemandem zu erzählen. Ich musste erst selbst mit mir ins Reine kommen.«
Richter war wie elektrisiert. Sollte etwa … Nein, sagte er sich, das kann nicht sein. Nicht diese Frau. Bitte nicht sie.
»Kannten Sie Frau Kassner näher?«, fragte Richter.
»Nein, ich habe sie nur zwei- oder dreimal gesehen. Sie war sehr hübsch. Und sie war jung, viel jünger als ich. Am liebsten hätte ich mit ihr gesprochen, aber ich habe mich einfach nicht getraut. Ich weiß, ich bin ein elender Feigling.«
»Wussten Sie, was sie beruflich gemacht hat?«, fragte Richter weiter und versuchte es wie eine ganz normale Frage klingen zu lassen. In Wirklichkeit wollte er herauskriegen, was sie von und über Judith Kassner wusste.
»Sie war Studentin«, antwortete Viola Kleiber. »Aber fragen Sie mich nicht, was sie studiert hat. Es ist auch egal, was zählt, sind die Fakten, dass er und sie …«
»Frau Kleiber, ich glaube, ich sollte ein Missverständnis aufklären. Frau Kassner war zwar Studentin, und eine außergewöhnlich begabte dazu, doch sie verdiente ihr Geld durch Prostitution. Ihre Kunden waren allesamt sehr betucht …«
»Heißt das etwa, mein Mann hat sich mit einer Hure abgegeben?« Viola Kleiber sah ihn mit ungläubigem Staunen an.
»Diese Frage kann ich nicht beantworten. Nur Ihr Mann kann das. Sind Sie denn sicher, dass
er
ihr die Wohnung gekauft hat?«
»Ich habe es angenommen.«
»Haben Sie denn jemals mit Ihrem Mann darüber gesprochen? Ich meine, haben Sie ihm jemals ins Gesicht gesagt, was Sie von ihm wissen oder zu wissen glauben?«
Viola Kleiber schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe mich nie getraut, dieses Thema anzuschneiden. Ich habe Angst davor. Wie gesagt, ich bin ein elender Feigling, aber ich kann nichts dagegen tun.« Sie ballte die Fäuste, Wut und Trauer zugleich zeigten sich auf ihrem Gesicht. »Vielleicht liegt es daran, dass meine Mutter früher immer zu mir gesagt hat, ich sei hässlich, ich tauge zu nichts, na ja, ich musste mir eine Menge schlimmer Dinge von ihr anhören. Bis mein Mann gekommen ist und mir gesagt hat, dass ich die schönste Frau auf Erden sei … Worte, nichts als leereWorte! Ich bin nicht hässlich, das weiß ich inzwischen selbst, aber mittlerweile zweifle ich doch an seinen Worten, vor allem seit ich diese Judith Kassner gesehen habe. Sie war so verdammt hübsch, sie hatte genau das, was alle Männer sich wünschen, eine Topfigur, ein schönes, ausdrucksstarkes Gesicht, und wahrscheinlich war sie im Bett eine Klasse für sich. Und da kann ich natürlich nicht mithalten.«
»Frau Kleiber, würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie für mich eine der schönsten Frauen sind, die mir je begegnet sind?«
»Ist das eine Frage oder eine Feststellung?«, fragte sie zweifelnd, und der Hauch eines verlegenen Lächelns umspielte ihre Lippen.
»Eine Feststellung, und zwar eine ehrliche. Und ich kann Ihnen nur raten, sprechen Sie mit Ihrem Mann über Ihre Bedenken. Sprechen Sie mit ihm über Frau Kassner. Ich bin sicher, es wird sich alles einrenken.«
Was tue ich da
Weitere Kostenlose Bücher