Der Jäger
erhalten hatte: »Nein, meine Tochter hat kein Tagebuch geführt. So was machen junge Mädchen, aber keine erwachsenen Frauen.« Und die Antwort war wie aus der Pistole geschossen gekommen.
Sie würde sie noch einmal fragen, und ganz gleich, ob sie krank war oder sich inzwischen von ihrem Schlaganfall erholt hatte, sie würde ihr Rede und Antwort stehen müssen. Die Frau war Anfang sechzig, und Julia Durant hatte sich damals schon über ihr Verhalten gewundert. Es war keine oder nur wenig Trauer in ihrem Gesicht zu lesen oder aus ihren Worten zu hören gewesen, sie hatte ihr regungslos gegenübergesessen und einfach nur monoton die Fragen beantwortet, kühl und abweisend. Jetzt, nach fast einem Jahr, fiel Durant das seltsame Verhalten der Frau wieder ein, klangen noch immer ihre Worte in ihren Ohren.
Sie trank die Dose Bier aus, wusch sich, trocknete sich ab, ließ das Wasser ablaufen. Ihre Haut war trocken und juckte. Sie cremte sich mit Bodylotion ein, genoss die erfrischende Kühle der Lotion auf der Haut, massierte sie langsam ein und stellte sich vor, ein Mann wäre jetzt hier und würde sie einreiben und massieren und … Sie lächelte ob des absurden Gedankens, zog sich, als sie fertig war, einen weißen Slip und ein ebenso weißes T-Shirt an, putzte sich die Zähne, bürstete ihr Haar, nahm die Tagebücher, löschte das Licht im Bad und ging zu Bett. Sie war müde und wusste, dass morgen ein anstrengender Tag bevorstand. Sie knipste die Nachttischlampe an, legte sich hin, rauchte noch eine Zigarette und schaute dabei an die Decke. Es würde ein harter Fall werden, vielleicht einer der schwersten, seit sie beider Mordkommission arbeitete, ein Fall, so undurchsichtig wie eine schwarze Wand bei Nacht. Auf was für einer Party war Erika Müller gewesen? Und wer war dieser geheimnisvolle I.? War I. ihr Mörder? War I. derjenige, den alle kannten, den alle als so Vertrauen erweckend empfunden hatten und über den keines der Opfer auch nur ein Detail erzählt hatte? Und wenn es so war, warum hatten sie nichts erzählt? Gab es ein Geheimnis, das sie verband, das so geheim war, das es ihnen unmöglich machte, mit irgendjemandem darüber zu sprechen? Hatten sie einen heiligen Schwur geleistet? War I. der Wolf im Schafspelz, die reißende Bestie im Gottesgewand? Oder war er einfach nur eine nette Person, die nichts mit diesem Fall zu tun hatte? Fragen über Fragen, auf die die Polizei wohl nur allmählich, wenn überhaupt, Antworten bekommen würde.
Sie drückte die Zigarette aus, zog die Bettdecke bis ans Kinn und rollte sich auf die Seite. Sie schloss die Augen, doch trotz ihrer Müdigkeit hatte sie Mühe einzuschlafen. Das letzte Mal, dass sie zur Uhr blickte, war um 0.50 Uhr.
Dienstag, 7.45 Uhr
Berger hockte schon seit halb sieben hinter seinem Schreibtisch. Nach und nach trudelten die anderen Kommissare ein, als eine der Letzten gegen Viertel vor acht Julia Durant.
Sie hatte wieder einmal schlecht geschlafen (sie schob es auf ihr unausgefülltes Sexualleben), hatte sich unruhig, von Albträumen geplagt, im Bett herumgewälzt, war um halb sieben aufgewacht, nach knapp fünfeinhalb Stunden Schlaf. Sie hatte kaum etwas gefrühstückt, lediglich eine Banane und eine Tasse Kaffee zu sich genommen. Die tiefen Ringe unter den Augen hatte sie mit etwas Make-up zu kaschieren versucht. Sie murmelte, als sie Hellmer sah, nur ein »Morgen«. Berger, der allein in seinemBüro war, als Durant hereinkam, blickte kurz auf. Er hatte Fotos vor sich ausgebreitet und blätterte in einer Akte.
»Guten Morgen, Frau Durant«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, ich habe gerade den Bericht von der Gerichtsmedizin bekommen.« Er reichte Durant die Akte über den Tisch.
Der Bericht war in fast allen Punkten identisch mit denen der drei anderen Opfer – Schläge, Nadelstiche, abgebissene Brustwarzen –, es gab nur einen Unterschied, Judith Kassner hatte Geschlechtsverkehr gehabt, aber das wusste sie ja bereits von Hellmer. »Kennen die andern den Bericht schon?«, fragte sie.
»Hellmer kennt ihn. Es ist schon erstaunlich, wie schnell unsere Leichenschänder heutzutage arbeiten«, antwortete Berger, während er die Fotos vor sich betrachtete.
»Vaginale und anale Penetration und Ejakulation«, las sie leise, ihre Lippen bewegten sich kaum.
»Was halten Sie davon?«, fragte Berger, und die Frage klang wie: Haben Sie gut geschlafen?
»Mit wem immer sie Verkehr hatte, es war nicht ihr Mörder«, antwortete
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