Der Jäger
war er verheiratet, auch wenn er keinen Ehering trug, aber wer trug heutzutage schon noch einen, in einer Zeit der grenzenlosen Freiheit, wo jeder sich nahm, was er kriegen konnte. Und er hatte
sie
bekommen, für zwei Nächte. Sie hatte nur die Schultern gezuckt, in Gedanken einen Haken dahinter gemacht, in dem Wissen, es würde irgendwann wieder einer kommen, mit dem sie eine oder mehrere Nächte verbringen würde.
Auf jeden Fall konnte sie Erika Müller verstehen, auch wenn sie es nie mit einem Alkoholiker zu tun gehabt hatte. Aber sie wusste um die Nebenwirkungen permanenten Alkoholmissbrauchs, Leberschäden, Nervenschäden, Krankheiten der inneren Organe, aber auch Gedächtnisverlust und nachlassende Libido, bis hin zum völligen Potenzverlust.
Mit einem Mal blieb ihr Blick auf einer Seite im Oktober hängen. Sie las wie gebannt.
15. Oktober
Nun, nachdem ich weiß, dass er in eine Scheidung nie einwilligen wird und ich momentan auch nicht den Mut aufbringe, ihn einfach zu verlassen, werde ich ihm wenigstens eine Lektion erteilen. Das Treffen heute Abend war herrlich. Ich habe seit Jahren nicht mehr so gelacht und habe mich vor allem mit I. wieder besonders gut verstanden, genau wie letztes Jahr. Komisch, dass ein ganzes Jahr vergehen musste, bis wir uns zufällig – gibt es eigentlich einen Zufall? – wieder getroffen haben. Wir werden uns schon bald wiedersehen, und dann bin ich gespannt, was auf mich zukommt. Und sollte Bernd das je lesen, so macht es mir nichts aus, im Gegenteil, es ist nur die Rache einer betrogenen Frau! So, da hast du es! Am nächsten Freitag treffen wir uns, und auch wenn ich nicht weiß, was wir genau machen werden, es kann nur besser sein als das, was ich in den vergangenen Jahren erlebt habe. Danke, Gott, danke, danke, danke!! Ich stehe ewig in Deiner Schuld, dass Du mir diese Chance gibst. Das Leben ist
doch
schön!!!
Durant war wie elektrisiert. Sie schoss hoch, las den Abschnitt noch einmal. Dann blätterte sie zum darauf folgenden Donnerstag.
21. Oktober
Alles wie gehabt. Aber morgen lasse ich die S… raus. Augen zu und durch, oder nein, lieber die Augen offen halten und sehen, was auf mich zukommt. Ich bin ja so gespannt, was mich erwartet, so neugierig. Was wird der morgige Abend bringen? Ich kann es kaum erwarten. Ich freu mich so.
Julia Durant klappte das Buch zu. Sie hat sich mit jemandem getroffen, dachte sie. Aber sie hat seinen Namen nicht genannt. Warum hat sie es nicht getan? Hatte sie Angst, ihr Mann könnte es herausfinden und sie zur Rede stellen, sie vielleicht sogar schlagen? Ich muss sehen, was sie letztes Jahr geschrieben hat. Wie lange war es her, ein Jahr? Und warum hatte Renate Schwab nichts davon erwähnt, dass Erika Müller auch schon die Woche davor nicht die ganze Zeit über beim Meeting gewesen war?
Sie war nervös, steckte sich eine Zigarette an, legte das Buch auf den Boden, schnitt das zweite Buch auf, es war das von 97, ließ es fallen und nahm das dritte. Sie blätterte ab Ende September 98 – fast alles Eintragungen, die sie ähnlich schon von dem anderen Buch kannte –, bis sie schließlich den gewünschten Eintrag fand.
9. Oktober
Irre, diese Party! Hab mich lange nicht so wohl gefühlt. Habe diesmal das Nachmeeting geschwänzt, habe gesagt, ich müsse nach Hause, weil Bernd krank sei. Dabei wusste ich genau, dass er bestimmt schon seit zehn besoffen im Bett lag. Er ist sowieso mehr mit seinem Bier und seinem Schnaps verheiratet als mit mir. Tut mir Leid, dass ich gelogen habe, aber es musste sein. Irgendwann einmal musste ich diesem Käfig entfliehen, und wie hätte ich diese Einladung ausschlagen können? Vor allem I. ist etwas Besonderes. Allein sich mit I. zu unterhalten, war diesen Abend wert. Und dieses Gesicht, diese Haare, dieser Mund, diese Hände! Ich weiß nicht, ob wir uns je wiedersehen werden, ich kenne ja nicht einmal den richtigen Namen, so wenig, wie die andern meinen kennen. Trotzdem, wenn das Schicksal es will, kreuzen sich vielleicht doch noch einmal unsere Wege. Man muss nur warten können.
Julia Durant las auch diesen Eintrag ein zweites Mal, legte das Buch auf den Hocker, schloss die Augen. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken wie in einem Karussell. Mit einem Mal fragte sie sich, ob es nicht vielleicht doch ein Tagebuch von Juliane Albertz und den anderen Opfern gab. Sie erinnerte sich, wie sie vor etwa einem Jahr die Mutter von Juliane Albertz nach einem Tagebuch gefragt und die harte und abweisende Antwort
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