Der Jäger
auf den Boden, zog die Jacke aus und legte sich auf die Couch, die Hände über dem Bauch gefaltet. Sie machte einen extrem stillen, in sich gekehrten Eindruck, nicht depressiv, eher melancholisch. Etwas schien sie zu bedrücken, und Richter wollte, bevor er mit der Behandlung begann, herausfinden, was es diesmal war.
»Wie geht es dir heute, Maria?«, fragte er, während er auf dem Stuhl schräg hinter der Couch Platz nahm.
»Es geht so.«
Richter wartete einen Augenblick, in der Hoffnung, sie würde noch etwas hinzufügen, dann sagte er: »Was ist passiert? Etwas, das dich traurig macht?«
»Vielleicht.«
»Aber du willst mir nicht verraten, was es ist.«
»Fangen wir einfach an«, meinte sie, den Blick zur Decke gerichtet.
»Okay, entspann dich bitte. Die letzten beiden Male warst du sehr gut. Heute schauen wir, ob wir noch etwas tiefer gehen können.«
Richter stand auf, schaltete das Tonband ein und setzte sich vor sie. Er sprach leise und monoton, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Maria van Dycks Bewusstsein und Unterbewusstsein die Plätze getauscht hatten.
Nach einigen eher bedeutungslosen Fragen sagte Richter: »Maria, du bist jetzt zehn Jahre alt, und es ist Sommer. Es sind Ferien. Fühlst du die Wärme der Sonne?«
»Es ist sehr heiß«, begann sie. »Ein paar Freundinnen sind bei mir, Ines, Doris, Manuela und Stephanie, und wir sind im Garten und plantschen im Swimming-Pool. Stephanie ist die Wildeste von uns, sie kann vom Wasser gar nicht genug bekommen. Sie wohnt ja auch nur in einer einfachen Wohnung ohne Pool, ihre Eltern sind nicht so reich wie meine. Wir bespritzen uns mit Wasser, und wir lachen viel. Es ist ein herrlicher Tag. Meine Mutter hat uns Süßigkeiten und etwas zu trinken auf die Terrasse gebracht, weil Lydia, das Hausmädchen, frei hat.« Ihre Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern, typisch für Patienten, die sich in einer Phase befanden, in der in das Unterbewusstsein verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche traten. Es war, als würde eine Tür aufgemacht, die jahre-, oft jahrzehntelang fest verschlossen war. Eine Tür, hinter der Ereignisse und Erlebnisse eingesperrt lagen und doch danach verlangten, freigelassen zu werden. Immer und immer wieder rüttelten diese meist traumatischen Erlebnisse an der Tür, äußerten sich in Albträumen oder unerklärlichen Angstzuständen oder Depressionen, bisweilen sogar in Form multipler Persönlichkeiten. Richter kannte mehrere Personen mit multiplen Persönlichkeiten. Eine von ihnen war eine befreundete Psychologin, in der über dreißig verschiedene Persönlichkeiten wohnten. Ihr Vorteil war, dass sie diese Persönlichkeiten mittlerweile alle kannte und sogar eine Art Freundschaft mit ihnen geschlossen hatte. Es war wie ein großes Haus mit vielen Bewohnern, und sie konnte nie sagen, wann einer von ihnen aus seinem Zimmer trat und das Kommandoübernahm. Sie war eine hervorragende Psychologin, und nur wenige wussten von ihrem Problem. Er bewunderte sie, wie sie mit dieser Belastung fertig wurde, vor allem aber, wie sie damit umging. Manchmal, wenn er sie anrief, meldete sich ein Mann mit einer tiefen Stimme oder eine Frau, die einen bayrischen Akzent hatte, obwohl es seine Kollegin war, die eigentlich nur hochdeutsch sprach. Und ein weiteres Glück war, dass keine dieser über dreißig Persönlichkeiten in irgendeiner Form aggressive oder gar zerstörerische Züge zeigte. Aber Maria van Dyck wies keinerlei Merkmale von Schizophrenie oder gar multipler Persönlichkeitsspaltung auf.
Als sie nicht weitersprach, sagte er: »Und jetzt ist es später Nachmittag, sechs oder sieben Uhr. Sind deine Freundinnen noch da, oder bist du allein?«
»Sie sind noch da, wir spielen auf dem Rasen mit dem Ball. Meine Mutter kommt heraus und sagt, es sei jetzt Abendbrotzeit und dass meine Freundinnen gehen müssen. Mein Vater ist nicht zu Hause, ich bin ganz allein mit meiner Mutter.« Sie stockte, ihr Atem ging schnell, Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet, eine Reaktion, die Richter sehr genau beobachtete. »Sie sagt, sie habe mir Badewasser einlaufen lassen, obwohl ich doch den ganzen Nachmittag im Pool gewesen bin. Ich will nicht baden, aber sie besteht darauf, sie meint, das Chlor würde meiner Haut schaden. Ich gehe ins Badezimmer, steige in die Badewanne, und als ich … Sie kommt einfach zur Tür herein, stellt sich vor mich und sieht mich so komisch an. Warum sieht sie mich so an? Es ist ein merkwürdiger
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