Der Jäger
naturgelocktes, volles, bis auf die Schultern fallendes braunes Haar, das im Sonnenlicht rötlich schimmerte und das sie immer offen trug. Ihre Haut hatte einen natürlichen Braunton, ihre grünen Augen etwas Katzenhaftes. Vor einigen Monaten hatte sie ihr Abitur mit eins bestanden, trotz einer psychischen Störung, die seit mehr als acht Jahren ihr ständiger Begleiter war. An diesem Tag trug sie Blue Jeans, eine weiße Bluse, eine Jeansjacke und weiße Tennisschuhe. Sie trat in das Behandlungszimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren zu einer hübschen jungen Dame entwickelt, und wäre nicht ihre Scheu vor Männern, dachte er, so könnte sie an jedem Finger zehn haben. Alles an ihr hatte etwas Fragiles, und wenn sie sich nicht gerade in einer depressiven Phase befand, leuchteten ihre grünen Augen wie Smaragde. Er mochte dieses Mädchen, das so verletzbar war, so intelligent und so einsam, gefangen in einem Käfig aus Angst und Depression. Wenn es jemanden gab, dem er wünschte, von seinem Leiden befreit zu werden, dann ihr. Sie hatten sich schon etliche Male während der Behandlung über Themen unterhalten, die mit der eigentlichen Therapie nichts zu tun hatten, doch er hatte von Anfang an gespürt, welch besonderer Mensch ihm gegenübersaß oder auf der Couch lag. Sie liebte Tiere und Kinder, aber ihre Seele schrie nach Hilfe, sie aus diesem Gefängnis zu befreien, um leben zu können, um endlich das Leben und vielleicht auch die Liebe zu genießen. Er hatte selten eine junge Frau von nicht einmal neunzehnJahren kennen gelernt, die so belesen und so weise war, und er war sicher, gelänge es ihm, sie von ihren Ängsten und Depressionen zu erlösen, könnte sie für viele Menschen ein Vorbild sein.
Doch noch war es nicht so weit, aber mit jeder Stunde mehr hatte Richter das Gefühl, als näherten sie sich der Ursache ihres Leidens, das einen Teil ihrer Kindheit, vor allem aber ihre Jugend beherrscht und jegliche Unbeschwertheit von ihr genommen hatte. Sie war ernst und lächelte selten, und wenn, dann höchstens aus Verlegenheit, weil sie fürchtete, etwas Falsches gesagt zu haben. Er wusste, sie würde nie jemanden verletzen oder gar die Hand erheben, ihre Stimme war sanft und leise, ihre Bewegungen hingegen gehemmt. Ihre Schultern hingen leicht nach vorn, ihr Blick war meist zu Boden gerichtet. Ihr Selbstbewusstsein lag unter ihren Ängsten begraben und hatte einer großen Unsicherheit allem Unbekannten und Fremden gegenüber Platz gemacht. Sie war unfähig, aus sich herauszugehen, sie war noch nie tanzen gewesen, hatte noch nie einen Freund gehabt. Die einzigen Personen, von denen er sicher wusste, dass sie sich um sie kümmerten, waren ihre Eltern und eine Freundin, die all die Jahre über zu ihr gehalten hatte. Jedes Mal, wenn Richter an Maria van Dyck dachte oder sie sah, in all ihrer Verzweiflung und Zerbrechlichkeit, hoffte er inständig, mit ihr zusammen die Dämonen zu vertreiben, die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr umschlichen und immer wieder mit spitzen Nadeln traktierten.
Er selbst hatte keine Kinder, trotz vier Ehen, weil er immer an Frauen geraten war, die keine Kinder wollten, aber wenn er sich ein Kind hätte wünschen dürfen, dann hätte es in etwa die Charakterzüge einer Maria van Dyck aufweisen müssen.
»Hallo, Maria«, sagte Richter und deutete mit einer Hand auf die Couch. Manche Patienten, wie Viola Kleiber, zogen es vor, im Sessel zu sitzen, während andere, wie Maria van Dyck, sich lieber auf die Couch legten. Die Ursache ihrer schweren Angstzuständeund Depressionen lag bis jetzt im Dunkeln, allerdings hatte Richter es geschafft, mit Hilfe eines neu entwickelten Medikaments und einer Gesprächstherapie die mit der Angst verbundenen physischen Beschwerden einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Und er wurde von Mal zu Mal sicherer, den Grund für ihre Ängste in ihrem Elternhaus zu finden. Als sie vor gut einem Jahr, von ihrem Vater geschickt, zu ihm gekommen war, fürchtete sie sich vor engen Räumen, vor großen Menschenansammlungen, betrat keinen Aufzug, mied, soweit es ging, Kaufhäuser, litt unter Schluck- und Atembeschwerden, Herzjagen, Übelkeit und Durchfall, Schwindel und Erbrechen und dem Gefühl, von einer Sekunde zur andern tot umzufallen. Am meisten aber fürchtete sie sich vor Wasser. Sie badete nie, sondern duschte nur, etwas, das Richter stutzig machte, als er zum ersten Mal davon hörte.
Maria van Dyck stellte ihre Tasche
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