Der Jäger
diffuses Bild des Täters vor Augen zu haben. Er schlug die Akten zu, legte seine eigenen Notizen daneben, erhob sich und löschte das Licht. Susanne war noch immer nicht zurück, wahrscheinlich war sie wieder in irgendeinem Bett gelandet, bei irgendeinem Gigolo, um sich die Seele aus dem Leib zu vögeln. Es gab im Moment Wichtigeres für Richter, als sich darüber Gedanken zu machen. Wenn er in etwa fünf Stunden aufstand, würde sie wieder neben ihm liegen und bis zum Mittag schlafen.
Dienstag, 21.30 Uhr
Konrad Lewell hatte seine letzte Klientin vor einer guten Stunde verabschiedet, den Scheck in die Schublade seines Schreibtischs gelegt und war nach oben gegangen, um sich für den Abend frisch zu machen. Er duschte, bürstete sich das an den Schläfen leicht ergraute und an der Stirn etwas schüttere braune Haar, stutzte seinen Schnurrbart um ein paar Millimeter, schnitt zweiNasenhaare ab, besah sich im Spiegel und nickte zufrieden. Nachdem er etwas Xeryus Rouge Eau de Toilette aufgelegt hatte, begab er sich wieder nach unten, drückte die Fernbedienung seiner Hifi-Anlage, und die neueste CD von Shania Twain begann zu spielen.
Sie hatten sich für zehn verabredet, weil sie vorher noch einen Termin hatte, und in der Regel pflegte sie pünktlich zu sein. Sie trafen sich seit etwa anderthalb Jahren mindestens einmal in der Woche, und er genoss dieses Zusammensein jedes Mal in vollen Zügen, auch wenn er inzwischen wusste, dass sie nicht seinetwegen kam oder gar Liebe für ihn empfand, sondern aus anderen Gründen, die ihm allerdings bislang verborgen geblieben waren. Doch Lewell scherte sich nicht darum, für ihn zählte nur, dass er mit einer Frau schlafen durfte, nach der sich alle Männer umdrehten und sich wünschten, einmal mit ihr allein zu sein. Eine Frau, die von den meisten Frauen beneidet wurde, die aber nie den Anschein erweckte, als würde sie sich als etwas Besseres fühlen. Sie kam zu ihm, um mit ihm zu schlafen, obgleich sie verheiratet war, und er hatte sich schon seit langem gefragt, was ihr Mann ihr vorenthielt, das sie in seine Arme getrieben hatte. Vielleicht war es sein Alter, obwohl ihn und Lewell nur wenige Jahre trennten. Vielleicht verfügte er auch nicht über das bei ihr nötige Stehvermögen, oder er war einfach unfähig, ihre sexuellen Begierden zu erfüllen. Und auch wenn er ihren Mann sehr gut kannte, ihn zu seinen besseren Freunden zählte, machte es ihm nichts aus, ihn mit dessen Frau zu betrügen. In manchen Dingen handelte Lewell schlichtweg skrupellos und über die Maßen egoistisch, was aber seinem Naturell entsprach und ihn sogar ein wenig stolz machte, erhob es ihn doch über all die anderen seelischen Krüppel, die ständig mit sich und der Welt im Clinch lagen, von einem Therapeuten zum nächsten rannten, ihren Frust und Kummer in Alkohol ertränkten oder mit Tabletten bekämpften, oder die zu ihm kamen, um zu erfahren, welche positiveÜberraschung oder Gemeinheit die Sterne als Nächstes für sie bereithielten. Er kannte seine negativen Seiten, und er spielte mit ihnen. So wie in diesem Fall, wo er die Freundschaft einfach für gewisse Stunden ad acta legte, um seinem Vergnügen zu frönen.
Lewell war knapp einsfünfundsiebzig groß, dreiundvierzig Jahre alt, ledig und verdiente gutes Geld, meist durch Frauen, die zu ihm kamen, um sich ein Horoskop erstellen oder sich die Handlinien deuten zu lassen. Manchen legte er auch, sofern sie es wünschten, die Karten oder benutzte das Pendel, um irgendwelchen Problemen auf die Spur zu kommen. Eigentlich gab es kein Gebiet im Bereich der Esoterik, auf dem er nicht bewandert war. Selbst die Parapsychologie war inzwischen zu einem Bereich geworden, in den er allmählich vorgestoßen war. Zu seiner Klientel zählten auch nicht wenige Männer, darunter einige sehr zahlungskräftige Topmanager, Unternehmer, sogar ein paar Politiker, um sich bei ihm Rat vor wichtigen Entscheidungen zu holen. Er nahm seinen Beruf sehr ernst und gab auch jedem seiner Klienten das Gefühl, ihn ernst zu nehmen. Wenn nötig, erteilte er sogar psychologischen Beistand in wichtigen Lebensfragen, auch wenn die Menschen, mit denen er es zu tun hatte, ihn im Grunde nicht interessierten. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre hatte er es so zu beträchtlichem Wohlstand gebracht, wobei er sich vorbehielt, sein Honorar nach den Vermögensverhältnissen seiner Klienten zu bemessen, eine der wenigen positiven Eigenschaften von Konrad Lewell.
Den Bungalow hatte er
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