Der Jäger
gerne herausgefunden, hätte sich am liebsten jetzt sofort mit ihr über ihre Vergangenheit unterhalten, über die Gründe, die sie bewogen hatten, sich an Maria zu vergreifen. Was lag in Claudia van Dycks Vergangenheit, das sie so werden ließ? Wahrscheinlich würde er nie eine Antwort darauf erhalten. Statt ihr ins Gesicht zu schreien, was er wusste, sagte er nur: »Es geht. Ich habe noch immer nicht herausgefunden, woher ihre Ängste rühren. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das jemals herausfinden werde.« Er drehte sich noch einmal um, gab ihr einen flüchtigen Kuss und sagte: »Ciao, bis bald.«
»Ich liebe dich, Professor! Wir könnten ein sehr glückliches Paar sein.«
»Du hast es mir schon oft gesagt«, erwiderte er.
»Ich will nur, dass du das nie vergisst«, entgegnete sie in einem Ton, der ihn aufhorchen ließ, ein Ton wie eine Warnung oder gar eine Drohung.
»Keine Sorge, ich vergesse es nicht.«
»Gut. Ich ruf dich an. Und es wäre schön, wenn nicht wieder zwei Wochen verstreichen würden, bis wir uns das nächste Mal sehen.«
Er nickte nur, zog seine Jacke über und verließ die Wohnung um Viertel nach acht. Sie sah ihm nach, drückte ihre Zigarette aus, stand auf und ging ins Bad, wo sie sich frisch machte und anzog. Ein kurzes dunkelblaues Kleid, Pumps. Sie kämmte sich, besah sich im Spiegel, ihr Blick war ernst, nahm ihre Tasche, löschte das Licht und schloss die Tür hinter sich ab. Sie stieg in ihren Wagen, fuhr ziellos durch die Gegend, bis sie an einer Bar Halt machte.
Auf der Fahrt nach Hause überlegte Richter, wie er es am besten anstellen konnte, Claudia van Dyck aus seinem Leben zu streichen. Ihm fiel nichts ein. Er verfluchte den Tag, an dem er sich mit ihr eingelassen hatte, den Tag vor gut einem Jahr, an dem sie bei ihm in der Praxis erschienen war, aufreizend gekleidet, und sich in lasziver Pose auf seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Er kannte sie schon lange vorher, sie hatten sich auf einem dieser unsäglich langweiligen Feste kennen gelernt und fast den ganzen Abend miteinander geplaudert. Belanglosigkeiten.
Dann hatte er eine Weile nichts von ihr gehört, bis sie eines Morgens mit tränenüberströmtem Gesicht vor seiner Tür gestanden hatte. Sie hatte nicht gesagt, was vorgefallen war. Sie wollte sich wegen angeblicher Angstzustände von ihm behandeln lassen, hatte die Behandlung aber nach wenigen Sitzungen wieder abgebrochen.
Eine lange Zeit war vergangen, bis zu jenem Tag, einem dieser Tage, an dem seine Hormone wieder einmal völlig verrückt gespielt hatten. Sie hatten sich nur unterhalten, aber es war die Art und Weise, wie sie ihn immer wieder angesehen hatte, wie ihre Blicke ihn wie ein Scanner abtasteten, wie sie ihre Brüste unter dem eng anliegenden, dünnen Pullover demonstrativ zur Schau stellte. Für den Abend hatten sie sich zum Essen verabredet. Danach waren sie in diese Wohnung gefahren, die ihr gehörte und von der ihr Mann angeblich nichts wusste. Es wurde eine stürmische, heiße Nacht, sie, ausgehungert von Liebesentzug, wie sie selbst behauptete, was Richter sich aber nicht vorstellen konnte, und er einfach nur froh, wieder ein Opfer gefunden zu haben, das ihm zu Willen war. Dabei hatte er übersehen, dass nicht er, sondern sie die Spielregeln diktiert hatte. Sie hatte ihm von ihrer ach so schrecklichen Ehe berichtet, diesem dumpfen, trübsinnigen Nebeneinander, eine Ehe, in der Sex und Zärtlichkeit angeblich keine Rolle mehr spielten. Er hatte es ihr geglaubt und gedacht, es wäre eine Affäre auf Zeit. Er hatte nicht für möglich gehalten,dass sie auch nach über einem Jahr noch immer Forderungen stellen würde. Und jetzt wurde ihm immer klarer, dass sie eine gefährliche, vielleicht sogar tödliche Gespielin war.
Er stellte seinen Wagen in der Garage ab, ging ins Haus und gestand sich ein, ein hoffnungsloser, von krankhaften Trieben geplagter Mann zu sein, einer, der anderen helfen konnte, sich selbst aber ein Rätsel blieb. Das Haus war leer, Susanne war ausgeflogen, wohin und mit wem, wusste er nicht. Er holte die Flasche Cognac und ein Glas aus dem Barfach und stellte beides auf den Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die Fotos der ermordeten Frauen. Er klappte eine Akte nach der andern auf, studierte die Fotos und die Berichte, machte sich Notizen bis spät in die Nacht hinein. Um drei Uhr morgens war er müde und unfähig, noch klar und analytisch zu denken. Aber er glaubte, schon ein erstes, wenn auch noch
Weitere Kostenlose Bücher