Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Kaplan auch immer stand, Ihr betrauert seinen Tod. Ich will nichts weiter, als Euch zur Seite stehen und Euch dabei helfen.«
»Warum?«
Sie zögerte mit ihrer Antwort. Philipp stand wie angewurzelt in der Türöffnung.
»Weil ich sehe, daß es falsch ist, was Ihr tut. Ihr zeigt den Menschen nur die Oberfläche Eures Wesens, die so unkompliziert scheint, daß jeder sie mag. Ihr macht ständig Scherze, und Ihr gebt vor, für jedes Problem eine Lösung zu kennen. Ich glaube aber, daß darunter ein anderer Mensch steckt, einer, dem nicht immer nach Scherzen zumute ist, einer, der statt zu spotten oftmals schreien möchte und der manchmal keinen Rat weiß. Ich möchte der Freund dieses Menschen sein. Gebt ihm eine Chance. Gebt mir eine Chance.«
Vorsichtig sagte Philipp: »Niemand möchte der Freund eines Schwächlings sein.«
»Ist es das, was Ihr denkt? Daß ein Schwächling unter der Haut steckt, die Ihr über Euch gezogen habt? Wißt Ihr nicht, daß unter jeder Oberfläche ein solcher Schwächling steckt? Unter meiner wie unter der Galberts, unter der Eures Herrn ebenso wie unter der Geoffrois ... Ihr denkt, keine Freunde zu haben. Vielleicht ist das richtig; vielleicht umgeben Euch nur Menschen, die Eure Stärke bewundern und sich an Euch anlehnen. Das ist aber Eure Schuld, denn niemand will einen Menschen zum Freund, der ihm ständig überlegen ist und ihn nicht an sich heranläßt. Die Menschen wollen nicht nur gestützt werden – sie wollen auch helfen. Ihr gebt allen immer nur Eure Stärke und stützt sie. Gebt ihnen auch einmal Eure Schwäche. Ihr werdet sehen,daß niemand deshalb schlecht von Euch denkt, im Gegenteil: Es werden sich viele Hände nach Euch ausstrecken.« »Eine Hand hat sich heute schon zurückgezogen«, sagte Philipp.
»Wie meint Ihr das?«
»Ich habe es mit Johannes verdorben. Ich fürchte, ich habe ihn unsterblich beleidigt.«
Aude seufzte. Philipp sah, daß sie seinen Themenwechsel klar erkannte, aber er starrte sie nur an und hoffte, daß sie darauf einging. Schließlich gab sie nach.
»Womit habt Ihr ihn beleidigt?«
»Ich habe den Verdacht ausgesprochen, daß irgend jemand im Kloster mit der Ermordung Thomas’ zu tun haben könnte.«
»Und glaubt Ihr das?«
»Nein«, stieß Philipp ungehalten hervor. »Was werdet Ihr tun? Ihn um Verzeihung bitten?«
»Ich sollte wohl; aber es wird nicht viel nützen. Nach dem zu schließen, was er mir an den Kopf geworfen hat, als ich ihn verließ, ist er wirklich wütend.«
»Noch wütender als auf den Archivar?«
Philipp kniff die Augen zusammen und musterte sie. »Was meint Ihr damit?«
»Wenn ich Euch nun sagte, daß ich heute während der Mittagsruhe ein Gespräch zwischen zwei Mönchen gehört habe, während ich mich im Frauenteil der Herberge aufhielt? Die beiden standen direkt neben der Tür und rechneten vermutlich nicht damit, daß sich jemand im Inneren befand. Der eine fragte, wann sie die Dokumente für den Abtransport sollten bündeln, und der andere antwortete, daß jetzt die beste Möglichkeit dazu bestehe. ›Der Kämmerer ist unterwegs, um eine arme Seele vom Erdbodenzu kratzen‹, sagte er. ›Ich habe Bruder Severin vor dem Archiv abgelöst. Der naive Kerl war mir noch dankbar dafür. Wenn Bruder Pio wiederkommt, will er sicher so bald wie möglich wieder mit den Unterlagen fort.‹ Ich habe herumgefragt ein wenig und herausgefunden, daß Bruder Pio der Archivar ist.«
Philipp schlug sich plötzlich aufgeregt mit der Faust in die hohle Hand. »Johannes dachte, Pio wolle nur seinem Ehrgeiz etwas Gutes tun und den Abt von seinem Dokumentenfund berichten. Dabei schafft er die Unterlagen aus dem Kloster, ohne daß Johannes davon erfährt. Was immer er damit bezweckt, es dürfte Johannes auf jeden Fall interessieren. Wißt Ihr, daß Ihr mir eben eine Möglichkeit gegeben habt, mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen?« »Natürlich.«
»Warum habt Ihr mir das nicht schon früher gesagt?«
»Es reicht doch, daß Ihr es zu dem Zeitpunkt erfahrt, an dem es für Euch wichtig ist.« Sie lachte. »Aber die Wahrheit ist, daß es mir eben erst wieder eingefallen ist.«
Philipp erwiderte ihr Lachen. »Ich danke Euch«, sagte er und vollführte eine bemüht elegante Verbeugung. Aude neigte den Kopf. Philipp sah sie an und erblickte die Schatten unter ihren Augen, die ihm zuerst nicht aufgefallen waren. Ihre Haut war von Natur aus hell, aber sie war bleicher als sonst. Das Lachen verschwand langsam aus ihrem Gesicht, während er
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