Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
und zum Dank verdächtigst du uns, einen Menschen ermordet zu haben. Denk doch einmal darüber nach, Philipp!«
»Laß mich in Ruhe«, brummte Philipp, ohne sich umzudrehen. Seine Schritte beschleunigten sich, um aus dem Hof vor dem Hospiz zu entkommen. Sein Zorn war schon wieder verraucht. Er wußte, daß er sich hatte hinreißen lassen, aber er brachte es nicht über sich, sich umzuwenden und mit Johannes Frieden zu schließen. Er sah das tote Gesicht des Kaplans vor sich. Ohne anzuhalten stürmte er hinaus in den Westhof.
In der Nähe der Klosterherberge war eine kleine Kapelle errichtet worden, um den Gästen des Klosters, die man nicht in seinen Innenbereich einzulassen gewillt war, dennoch die Möglichkeit zur Andacht zu geben. Es war ein kleines Gebäude, nicht unähnlich der Kapelle, die neben dem Friedhof auf Radolfs Besitz stand, ein fensterloser Bau mit einer großen Pforte, durch die er sein einziges Licht bezog. Der Regen plätscherte jetzt daran herab, wob einen dichten Vorhang vor der Eingangsöffnung und wehte in Schleiern über den menschenleeren Westhof. In der Kapelle war es düster und kühl; Philipp fröstelte, während er blicklos nach draußen schaute und sich an den Gedanken zu gewöhnen suchte, daß Kaplan Thomas nicht mehr am Leben war.
Zwei Gestalten hasteten über den Hof auf die Kapelle zu. Eine hielt eine Decke über den Kopf der anderen. Die beiden erreichten die Kapelle.
»Du kannst zurückgehen in die Herberge«, sagte Aude zu Galbert. »Philipp wird mich dann in den Frauentrakt begleiten.«
Galbert nickte, grinste Philipp zu – es hat ihm noch niemand gesagt, daß Thomas tot ist , dachte dieser unwillkürlich –, wickelte sich in die Decke und sprang über die Pfützen zurück in die Trockenheit der Herberge. Aude trat vom Eingang zurück, bis sie einen Platz erreichte, an dem die aufspritzende Nässe sie nicht mehr erreichen konnte. Sie sah Philipp in die Augen. »Was tut Ihr hier?« fragte sie.
»Ich warte darauf, daß der Tag vergeht«, knurrte Philipp.
»Ich will Euch nicht stören ...«
»Dann hättet Ihr nicht kommen sollen.«
»... aber ich dachte mir, Ihr könntet ein wenig Gesellschaft brauchen.«
Philipp bemühte sich, nicht zu ungehalten zu sein. »Ich würde es vorziehen, allein zu sein«, erklärte er.
Aude zuckte mit den Schultern und sah sich scheinbar interessiert in der Kapelle um. »Der Tote war ein guter Freund von Euch?« fragte sie wie nebenbei.
»So etwas Ähnliches.«
»Es sieht Euch ähnlich, Euch zu verbergen, wenn Ihr leidet, und niemanden an Euch heranzulassen. Aber das ist falsch, Philipp. Es gibt immer jemanden, der bereit ist, Euren Schmerz zu teilen. Ihr müßt nicht in einen Busch kriechen und allein den Mond anheulen wie ein verstoßener Wolf.«
»Ich danke Euch für Eure Ratschläge«, sagte Philipp sarkastisch. »Leider ist alles ganz anders, als Ihr denkt.«
»Wie war der Name Eures Freundes?«
»Thomas«, antwortete Philipp unwillig. »Er war nicht mein Freund. Ich mochte ihn, das ist alles.«
»Woher kennt Ihr ihn?«
»Er war der Kaplan meines Herrn.«
Aude lächelte. »Wieso sagt Ihr, daß er nicht Euer Freund war?«
»Weil es die Wahrheit ist. Ich habe keine ...«, er unterbrach sich.
»Ihr habt keine Freunde am Hof Eures Herrn? Ihr müßtet hören, wie Galbert über Euch spricht. Man möchte glauben, Ihr seid sein Bruder.«
»Galbert ist ein Tor«, brummte Philipp.
Sie lächelte wieder. »Erzählt mir ein wenig von Eurem Freund, dem Kaplan«, sagte sie. »Was war er für ein Mensch?«
Philipp sah sie ungläubig an. »Wollt Ihr das wirklich wissen?« »Natürlich. Immerhin bin ich durch den Regen gelaufen, um es zu hören.«
»Ihr wollt mir nur die Zeit vertreiben, weil Ihr glaubt, es geht mir nicht gut.«
Aude seufzte und ging ein paar Schritte in der Kapelle auf und ab. Das Tuch auf ihrem Kopf war durchnäßt, und sie hatte es um die Schultern gelegt. Ihr abgeschnittenes Haar leuchtete dunkel im Halblicht der Kapelle, eine zerzauste Kappe um ihr helles Gesicht. In ihren Augen war die helle Türöffnung als Spiegelbild zu sehen und ließ sie intensiv blau erscheinen. Zusammenhanglos dachte Philipp daran, daß ihre Augenfarbe sich mit dem Licht änderte: Bei Sonneneinfall waren sie grün, bei Regen blau und im goldenen Licht einer Fackel von einem hellen, wissenden Grau. »Und wenn es so ist?« rief sie. »Warum akzeptiert Ihr esnicht? Ich weiß, daß es Euch nicht gut geht, und Ihr wißt es auch. Wie nahe Euch der
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