Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
fühlte einen Stich, weil die Umstände ihres Todes die Toten selbst verdrängt hatten.
»Ich werde dafür sorgen, daß jemand den Segen über die Gräber spricht«, versprach er. »Du kannst wieder zurückgehen. Der Herr ist zufrieden mit dir.« Schiefnase steckte den Pfennig ein, wandte sich grußlos ab und schlurfte davon. Philipp nahm die Zügel seines Pferdes in Empfang. Als er sich hinaufschwang und im Sattel zurechtsetzte, sahen ihn die Bewaffneten erwartungsvoll an.
»Haben sie euch noch etwas von Belang erzählt?« fragte er.
»Nein. Was hast du in Erfahrung gebracht?«
»Wenn man es zusammenzählt: daß sie tot sind, nicht mehr.«
»Verdammte Einfalt«, brummte einer der Männer. Ein anderer wandte sich um und sagte dann: »Meister Philipp, der Bauer steht noch am Waldrand. Vielleicht hat er was vergessen.«
Philipp drehte sich um. Schiefnase stand auf dem Weg und schaute zu ihnen herüber. Als Philipp die Hand hob und ihm zuwinkte, erwiderte er die Geste halbherzig und blieb danach weiterhin stehen; Philipp trieb sein Pferd an und lenkte es zu ihm hinüber. Schiefnase betrachtete die Bewaffneten argwöhnisch, bevor er zu Philipp hinaufblinzelte.
»Ich wollte nur fragen«, sagte er halblaut. »Stimmt es eigentlich, was Lambert noch erzählt hat?« »Was denn?«
»Daß demnächst die Welt untergeht.«
Philipp musterte ihn sprachlos. »Wenn ich das wüßte«, seufzte er schließlich.
Philipp erstattete Raimund während des Abendmahls Bericht. Tische und Bänke standen vor dem Haus im Freien, und das Lachen der Gäste, die mehr oder weniger melodischen Töne, die eine Gruppe von drei Musikanten ihren Instrumenten entlockte, das Kläffen der Hunde und das allgemeine Lärmen eines fröhlichen Essens bildeten den unpassenden Hintergrund zu Philipps Geschichte. Nur ein Augenpaar befand sich unter den Gästen, das Philipp während seines Berichts beobachtete – Audes, die an einem der längsgestellten Tische saß. Sie lauschte mit halbem Ohr dem Gespräch einer Gruppe von Frauen, an dem sie sich vor Philipps Ankunft noch beteiligt hatte: Ob jemandem klar war, wieso die Sonne die Haut bräunte, während sie doch die zum Trocknen aufgehängten Leintücher bleichte? Sollte man das Haar mit Aschenlauge waschen und vor einem Feuer trocknen, bevor man Olivenöl hineinmassierte? Sollte man tatsächlich den Empfehlungen der Kirche folgen und seine Kinder selbst stillen wie die Armen, anstatt sie zu einer Milchamme zu geben? (Ein Thema, das Aude schmerzlich an die Schicksale ihrer Kinder erinnerte und das sie schweigend über sich ergehen ließ.) Die kichernde Unterhaltung mehrerer Männer an einem Nebentisch kreiste um andere, deftigere Fragen: Was war schlimmer, Raub, Mord oder Überfall?Antwort: Keines von allen, am schlimmsten war die Sodomie; woraufhin sie sich darüber amüsierten, daß in England die Sodomie offensichtlich gang und gäbe war, so daß man dort die Tiere mit ihren menschlichen Liebhabern gemeinsam auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Dies wiederum lenkte das Gespräch der Frauen zu den sittenlosen Verhältnissen, die den Niedergang der Welt bedeuten mußten. Die wenigen unter ihnen, die den Gerüchten vom bevorstehenden Jüngsten Gericht und dem Anbruch des tausendjährigen Reichs Christi Aufmerksamkeit gezollt hatten, gruselten sich wohlig bei den Geschichten von gewissenlosen Rittern, die auf den Altären Unzucht betrieben, den Dirnen, die ihre Dienste während des Gottesdienstes in der Kirche anboten, der raschen Ausbreitung von Bordellen und Prostitution in den Städten, die trotz aller Verderbtheit notwendig war, damit anständige Frauen und Töchter nicht auf offener Straße belästigt wurden – und waren mit den anderen der Überzeugung, daß es so nicht weitergehen könne und bestimmt der Tiefststand der gesellschaftlichen Moral erreicht war. Aude nickte und machte die richtigen Geräusche, so daß ihre Tischgenossinnen sie nicht aus ihrer lockeren Gemeinschaft ausschlossen, aber ihre Aufmerksamkeit war auf den erhöhten Tisch gerichtet, an dem sich Philipp, Raimund und der Anführer der Gutswache berieten.
Sie wußte, daß die Männer wegen der Überfälle besorgt waren. Aude versuchte, die Furcht zu unterdrücken, daß auch Geoffroi das Schicksal des Kaplans und der Pächterfamilie geteilt haben mochte. Gleichzeitig jedoch hielten sich die Gedanken an die Ungereimtheiten in beiden Vorfällen in ihr hartnäckig am Leben. Sie wußte, daß Philipp ähnliche Zweifel hatte, wenn er auch
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