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Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Titel: Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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endlich die Auskunft zuteil, daß er mit den ersten Gästen noch vor dem Morgengrauen in die Stadt geritten war, um die Mahlzeiten im »Kaiserelefanten« zu organisieren. Schließlich führte ein verschlafen aussehender Galbert ein Pferd und einen Maulesel aus dem Stall, ermunterte sich beim Anblick Audes und half ihr in den Sattel des Pferdes, bevor er sich selbst auf den Maulesel schwang. Die Sonne färbte den östlichen Horizont golden und ließ die tiefe Bläue des vergehenden Nachthimmels zurückweichen; und Aude fühlte die starke Hoffnung, daß inmitten der vielen Menschen, die zu der Zeremonie in die Stadt strömten, einer sein möge, der über Geoffrois Verbleib Bescheid wußte.
    Wenn etwas sie mit Unruhe erfüllte, dann nur der Umstand, daß ihre Hoffnung, heute einige Zeit mit Philipp verbringen zu können, beinahe ebenso stark war.
    Die Stadt wirkte, als würde sie belagert; bereits vor den Toren stauten sich die Menschen, und es waren sowohl außerhalb Kölns als auch auf den freien Flächen der Oursburg, der Westvorstadt und der letzten Stadterweiterung kleine Siedlungen aus Zelten, Strohdächern und ausgelegten Decken entstanden. Die Mehrzahl der Besucher schien sich seit mindestens zwei Tagen hier aufzuhalten. Den Hufgeräuschen der großen Gruppe machten die meisten bereitwillig Platz. Vor dem Tor ragte ein offenbar hastig errichteter Galgen auf. Zwei Körper hingen daran, umgeben von einer Anzahl von Menschen, die sich um die nur wenige Fuß hoch Gehenkten geschart hatten. Die Männer in Audes Gruppe machten grobe Bemerkungen über die Toten, aber Aude steckte das Entsetzen im Hals. Schon von weitem hatte sie die gelben Judenhüte gesehen, die auf den zur Seite geneigten Köpfen festgebunden waren. Der Weg führte dicht am Galgen vorbei, dicht genug, um den süßlichen Verwesungsgeruch wahrzunehmen, der von den Toten ausging. Einer von ihnen schien seit einigen Tagen dort zu hängen: Sein Gesicht war schwarz und der Hals von unnatürlicher Länge, und die Vögel hatten bereits Löcher in sein Fleisch gepickt. Der andere mochte gestern gehenkt worden sein – seine Züge waren vom Tod entstellt, aber noch nicht vom Verfall gezeichnet. Man hatte ihn ohne großes Aufhebens neben seinem Glaubensgenossen aufgeknüpft, und sein letzter Anblick mochte der des verfaulenden Antlitzes neben ihm gewesen sein. Daß niemand aus dem Judenviertel es bislang gewagt hatte, sie abzunehmen, zeigte die Gelähmtheit, die im Moment über dem vicus lag. Audes Mund war trocken, und ihre Beine fühlten sich weich an, während das Pferd sie sicher an den Toten vorübertrug. Sie hätte den schon länger Hängendenbeinahe nicht erkannt, und erst das Gesicht des zweiten Gehenkten hatte ihr gesagt, um wen es sich bei dem ersten handelte: Yohai ben David, den herablassenden Geldverleiher, der vor ihren Augen verhaftet worden war. Der zweite Tote war Benjamin ben Petachya. Während eine Trauer in ihr brannte, die mit zuviel Entsetzten gemischt war, als daß sie Tränen hervorgerufen hätte, fragte sich Aude, wer nun die gesammelten Dokumente des Judenviertels überwachte. Sie hatte den niedrigen, von den Schaulustigen auseinandergetrampelten und über das Gras verstreuten Aschenhaufen nicht gesehen, sonst hätte sie sich diese Frage nicht gestellt. Die Menschen schlossen sich hinter der vorbeiziehenden Gruppe wieder zusammen, um die Betrachtung der Gehenkten von neuem aufzunehmen, mit der nie endenden Faszination, die Tod und Verfall auf die Lebenden ausüben und sie selbst dem Gestank der Verwesung trotzen lassen. Aude drehte sich unwillkürlich um und sah, kurz bevor sich die letzte Lücke in der Mauer aus neugierigen Leibern schloß, daß dem Leichnam von Yohai ben David ein Bein fehlte – heimlich abgeschnitten von einem Bettler, der seine gesunden Beine unter seinem Schurz verstecken und das verfaulende Bein des Leichnams darunter hervorschauen lassen würde. Beine waren für diesen Trick beliebt; man mußte sie nur früh genug abschneiden, dann würden sie mehrere Tage halten. Gebt, edle Herren, gebt, denn die Fäule frißt mein Bein bei lebendigem Leib auf. Aude senkte den Kopf und wünschte sich, sie wäre auf dem Gut geblieben.
    Der Marktplatz war schwarz vor Menschen, und wenn Aude und ihre Begleiter nicht beritten gewesen wären, hätte es hier kein Durchkommen mehr gegeben. Aude trennte sich zusammen mit Galbert früh von der Gruppeund kämpfte sich zum »Kaiserelefanten« durch. Sie schwieg und war Galbert dankbar

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