Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
dafür, daß er keinerlei Bemerkungen über die gehenkten Juden von sich gab. Die Gesichter der Toten traten erst in den Hintergrund ihres Denkens, als der Wirt ihr die Neuigkeiten unterbreitete. »Ein paar Kerle haben gestern hier vorgesprochen und gesagt, sie würden Euren Mann kennen«, erklärte er. »Wo sind sie? Was habt Ihr zu ihnen gesagt?« fragte Aude atemlos.
»Ich habe ihnen dasselbe gesagt wie Euch: daß Meister Philipp sich mit ihm unterhalten habe.« »Warum habt Ihr ihnen nicht erzählt, daß ich nach ihm suche?« rief Aude verzweifelt.
»Die Kerle sahen nicht so aus, als würdet ihr gerne mit ihnen Bekanntschaft schließen«, brummte der Wirt. »Üble Gesellen. Mit Verlaub – wenn diese Burschen hinter Eurem Mann her sind, dann helfe ihm Gott ... und wenn sie seine Freunde sind, dann helfe Euch Gott«, vollendete er zögernd. »Ihr müßt meine Offenheit entschuldigen.« Galbert verzog bedauernd den Mund. »Vielleicht haben ihn Wegelagerer entführt und wollen Lösegeld verlangen«, sagte er hilfreich. »Das würde auch erklären, warum sie sich so lange nicht gemeldet haben. Sie mußten erst feststellen, wer Euer Gatte ist und ob man Geld für seine Freilassung verlangen kann.«
»Das ist nicht sonderlich beruhigend, was du da sagst«, brachte Aude hervor. Galbert sah sie schuldbewußt an.
»Was mach’ ich jetzt?« rief sie.
»Vielleicht weiß Philipp einen Rat.«
Aude wollte Galberts Ansinnen ablehnen, als ihr zu ihrer eigenen Überraschung klarwurde, daß es genau das war, was sie wollte: Philipp von der unerwarteten Wendung derDinge zu erzählen und seine Meinung darüber zu hören. Sie wäre sogar mit einem seiner Scherze zufrieden gewesen; alles, mit dem sich ihr aufgebracht klopfendes Herz beruhigen ließ. Wenn man dir etwas angetan hat, Geoffroi ...
»Wie sollen wir Philipp finden in all dem Gewühl?« »Er wird beim Dom sein, wie die meisten. Wenn wir gleich gehen, kommen wir vielleicht noch hinein.« Galbert packte den Steigbügel von Audes Pferd und hielt ihn ihr einladend hin, um ihr wieder hinaufzuhelfen.
»Bist du so eifrig, weil du selbst gerne in den Dom möchtest?« fragte sie.
»Nun ja ...«, Galbert wand sich ein wenig, »es sind immerhin die Reliquien der Heiligen Drei Könige. Und jetzt, zu dieser Zeit, haben sie vielleicht eine stärkere Wirkung als sonst. Wer weiß, welche Wunder man sehen kann.«
»Was ist so besonders an dieser Gelegenheit?«
»Aber der Tag des Herrn ist doch nicht mehr fern. Vielleicht geben sie uns ein Zeichen, ob das Reich von Jesus Christus anbricht und ob unser Herr Kaiser tatsächlich berufen ist, uns in dieses Reich zu führen.«
Aude starrte ihn an. Vage dämmerte ihr, daß auch zu Hause da und dort ein kleiner Herd der Erregung aufgeflackert war (wenn ein Kalb mit Mißbildungen geboren worden war, wenn ein Gewittersturm einen besonders alten Baum gefällt hatte, wenn man von Reliquien und Heiligenbildnissen hörte, die blutige Tränen weinten) und die Menschen sich ängstlich unterhielten, was die nahe Zukunft bringen mochte. Es waren Ausnahmefälle gewesen, wenn die Ernte eingebracht war oder schlechtes Wetter die Bauern zur Untätigkeit verdammte; ansonsten war jeder zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern, welchen großen Ereignissen die Christenheit entgegentreibenmochte. Die Mutter Kirche würde sich schon um das Seelenheil ihrer Herde kümmern. Aude hatte stets ebenso gedacht. Vielleicht lag es an ihrer besonderen Situation, daß ihr zum erstenmal ein kalter Schauer über den Rücken lief. Galbert fuhr unbekümmert fort: »Den meisten ist überhaupt nicht klar, welchen Zeiten wir entgegengehen. Die zwei Schwerter werden ihren letzten großen Kampf ausfechten, und nur eines davon kann gewinnen.«
»Was für zwei Schwerter?«
»Na ... die Schwerter eben. Das Schwert der Hölle und das Schwert des Himmels.«
»Es gibt kein Schwert der Hölle«, erklärte Aude trocken. »Und ein Schwert des Himmels gibt es ebensowenig. Du hast dem Garn der alten Weiber hinter den Spinnrocken gelauscht.«
»Ich habe es von einem Mann gehört, der der Knappe eines wichtigen Herrn war«, sagte Galbert mit Würde.
»Und weshalb ist er nicht mehr der Knappe des wichtigen Herrn? Hat er zu tief in dessen Weinfaß geschaut?«
»Nein, er mußte fliehen.« Seine Stimme wurde unwillkürlich leiser. »Er hatte Furcht, verhext zu werden. Wo sich wichtige Dinge abspielen, ist auch die Macht des Bösen nicht weit. Er hat es mir erzählt, als ich ihn zu
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