Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
euer Haus überfallen haben?«
Philipp betrachtete das Mädchen, dessen Hände nach der beinahe erfolgten Berührung grober flochten als zuvor. Neben ihr lagen unterschiedlich große Steine und Kiesel auf dem Boden. Ein Einfall stieg in Philipp auf oder besser: eine Erinnerung, so ungewünscht sie auch war. Eine Erinnerung an den kleinen Philipp, der, abgeschottet von den anderen Novizen durch das Gefühl seiner eigenen Minderwertigkeit und mitten unter ihnen ebenso einsam wie das Mädchen vor ihm unter ihresgleichen, im Schatten an der Klostermauer saß und Steine aufeinanderschlug, bis sie auseinanderbrachen. Die meisten von ihnen wiesen an den Bruchflächen ein erstaunliches Muster auf, bunte Farbbänder, Kleckse oder schillernde Einsprengsel, Schönheiten, die man unter ihrer matten, nichtssagenden äußeren Hülle niemals vermutet hätte. Er nahm vorsichtig zwei Steine, legte den kleineren von ihnen auf die Straße und schlug mit dem größeren kräftig darauf. Aus dem Augenwinkel beobachtete er das Mädchen. Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen und richtete ihre Augen auf die Steine, ohne die fieberhafte Flechtarbeit zu unterbrechen. Ein zweiter Schlag; ein dritter. Philipp begann innerlich zu fluchen, als der untere Stein beim vierten Schlag endlich in drei Teile zerbrach. Es war ein halbwegs rundgeschliffener, ehemaliger Flußkiesel gewesen, braun mit grauen Flecken. Er hatte ihn mit Bedacht ausgesucht, mit dem Rest von Wissen, das noch aus seinen Kindertagen in ihm schlummerte. Tatsächlich offenbarten die Bruchflächen der Teile das erhoffte flirrende Muster aus metallischen Einsprengseln, die da und dort im Sonnenlicht aufblinkten. Er leckte seinen Daumen ab und polierte die Flächen. Die Augen des Mädchens folgten seinen Bewegungen. Schließlich streckte er die Hand aus und hielt ihr die glitzernden Bruchstücke in Reichweite vor das Gesicht. Sie starrte darauf, aber sie machte keine Anstalten, die Teile von seiner Hand zu nehmen. Philipp legte sie vorsichtig vor ihr auf den Boden und zog die Hand zurück. Er war sicher, daß sie das Geschenk annehmen würde, aber er sah sich getäuscht. Sie verlagerte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Korb und ihre hektische Flechtarbeit, ohne die Steine noch eines Blickes zu würdigen.
Philipp seufzte und richtete sich auf. Die Hände begannen langsamer zu flechten, als er sich von ihr entfernte, und ertrat noch einen Schritt zurück. Mit zunehmender Entfernung zwischen sich und ihr schien sie sich zu beruhigen. Philipp beobachtete die Wandlung betroffen. Schiefnase, der ihm gefolgt war, schüttelte den Kopf und verzog den Mund.
»Die wird nie wieder richtig«, murmelte er, und Philipp hatte den Eindruck, daß der Mann damit versuchte, ein gewisses Mitgefühl auszudrücken.
»Wer hat sie gefunden?« fragte er.
»Ich. Als wir den Rauch jenseits des Wäldchens sahen, rannten wir los. Ich kam als erster dort an. Die Kerle hatten ganz schön gehaust; alle mausetot.«
»Und das Kind?«
»Lief zwischen den Toten herum.«
»Ich will die Hütte sehen.«
»Ich müßte eigentlich zurück aufs Feld«, erklärte Schiefnase zögernd. Philipp holte eine weitere Münze heraus und gab sie ihm. »Das kauft mir deine Dienste für den restlichen Tag«, sagte er warnend. Schiefnase nickte heftig. »Ich gehe voraus«, sagte er. »Es ist ein kleiner Fußmarsch.« Ulrich Einauge hatte sich mit dem Geschäftssinn des klugen Pächters ein Landstück erbeten, das außerhalb der bisher gerodeten und bestellten Flächen des kleinen Dorfes lag. Es gehörte zwar Mut dazu, abseits des Dorfes zu leben, und sei das Dorf noch so klein; und darüber hinaus hatte seine Entscheidung mehr Arbeit bedeutet. Aber sie bedeutete auch geringere Abgaben und die Möglichkeit, das Abfallholz der gefällten Bäume zu behalten. Wenn man Glück hatte, ging die Rechnung auf. Ulrich hatte nicht lange genug gelebt, um sich darüber Gedanken zu machen; jedenfalls hatte seine Entscheidung den Tod für seine Familie und seinen Nachfolger bedeutet.
Die Hütte war nur mehr eine schwarze Wunde im Erdboden zwischen halbverbranntem Heu und geschwärzten Reisighaufen. Die Blutspuren auf dem Boden hatten die Tiere bereits beseitigt, und lediglich der zähe Rauchgeruch, der um die Reste der verkohlten Grassoden des Daches und der Strohmatten der Wände hing, verriet, daß sich hier vor kurzem eine Tragödie abgespielt hatte. In der knietiefen, halbwegs rechteckigen Grube, die die Grundfläche der Hütte und ihr Boden
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