Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
nicht mit ihr darübersprach. Sie hätte ihre Gedanken gerne mit jemandem geteilt, aber die Frauen links und rechts neben ihr schienen nicht die geeigneten Ansprechpartner zu sein, und Philipp war zu sehr in die Beratung mit seinem Herrn vertieft. Eine der Frauen seufzte in ihre Richtung, ob sie glaube, daß die Kriege jemals aufhörten, und sie antwortete: »Nicht, bevor der Krieg Gottes gegen das Böse beendet ist«, ohne darüber nachzusinnen. Sie dachte daran, daß sie ihre Gedanken mit Geoffroi hätte teilen können, wenn er hier gewesen wäre, aber in ihrem Herzen wußte sie, daß sie sich damit selbst belog. Wenn er jemals ihr Seelengefährte im besten Sinn des Begriffs gewesen war, dann war diese Zeit schnell vorübergegangen. Immer tiefer in seine eigenen Gedanken versinkend, war er nach außen ein fürsorglicher Gatte, ein ebenso zärtlicher wie unbeholfener Liebhaber gewesen, hatte wie die meisten Männer ohne großen Erfolg versucht, die Geschicke seines Besitzes zu lenken und dies dann doch seiner Gemahlin überlassen, hatte vor Freude bei der Geburt seiner Kinder geweint und wieder aus Trauer über ihren Tod – und hatte sie doch niemals an dem teilnehmen lassen, was tief in seinem Inneren vorging. In Zeiten des Zorns hatte sie manchmal gedacht, dort sei nichts, und der gesamte Mensch bestünde nur aus einem charmanten, liebenswerten Äußeren über einem hohlen Kern. Tatsächlich war dort etwas, aber es war ein Teil von ihm, den er ihr niemals zu sehen gestattete. Sie war nicht sicher, ob dieser Teil schon immer dagewesen war; sicher war sie nur über den Umstand, daß sein Schweigen und sein geschicktes Abwehren jedes Versuchs, diesen Teil ans Licht zu ziehen, ihn gestärkt hatten, als ob jenes Dunkle in ihm sich von der Dunkelheit ernährte, die er ihm zuteil werden ließ. Seitdem sie dieWahrheit über Philipps Zusammentreffen mit Geoffroi erfahren hatte, wuchs in ihr die Furcht, ob ihr Mann nicht zuletzt von der Kreatur, die er in sich hatte reifen lassen, überwältigt worden war. Gewiß, sie hatte ihn verteidigt, wie dies einer Frau zustand, aber ihre Überzeugung war wankend gewesen. Sie kannte Geoffrois andere Seite nicht, und nach allem, was sie wußte, konnte sie einen Heiligen ebenso wie ein Ungeheuer beinhalten. Verdammt sollst du sein , dachte sie mit einer Heftigkeit, die sie selbst erschreckte, warum hast du dich mir nicht geöffnet? Ich habe es nicht verdient, daß du mich derart aus deinem Leben ausgeschlossen hast.
Das Essen zog sich über einen langen Zeitraum hin, ohne daß Aude eine Möglichkeit gefunden hätte, mit Philipp zu sprechen. Schließlich stand sie als eine der ersten auf und begab sich zu der Kammer im Dachgeschoß des Hauses, wohl wissend, daß das stückweise Eintreffen derjenigen Damen, die die Kammer mit ihr während ihres Besuchs teilten, sie die meiste Zeit wachhalten würde. Sie schritt über die Treppenstufen nach oben. Die kleine Fettlampe in ihren Händen riß vorbeihuschende Dienstboten, im Schlaf zusammengerollte Hunde und Kinder und den blanken Hintern eines Mannes aus dem Dunkel, der sich heftig zwischen zwei schlanken Frauenbeinen bewegte (das Keuchen hatte die beiden schon angekündigt, bevor das Licht auf sie fiel). Oben legte sie sich neben eine der Frauen, die schon vor ihr von Müdigkeit überwältigt worden war und leise schnarchend an einer Seite des breiten Lagers schlief, und fühlte sich hellwach, kaum daß sie eine der Decken über sich gezogen hatte. Als sie endlich doch vom Schlaf hinuntergezogen wurde, galt ihr letzter bewußter Gedanke dem Liebespaar, das ihre Lampe aus der Intimität des dunklen Treppenhauses gerissen hatte, und mit verblassendem Erstaunen stellte sie fest, daß sie sich ebenfalls danach sehnte, wieder einmal mit einem Mann zusammen die Lust zu genießen.
Nach einer unterbrechungsreichen Nacht stolperte sie die Augen reibend in den Saal hinunter und von dort ins Freie hinaus. Stimmen und die Geräusche von ungeduldigen Pferdehufen empfingen sie: diejenigen der Gäste, die dem Wein in einem weniger starken Maße zugesprochen hatten oder mehr davon vertrugen und die sich im Morgendämmer aufmachten, um in die Stadt zur Reliquienschau zu reiten. Man forderte sie auf, die Gruppe zu begleiten, und bot ihr an, auf sie zu warten, bis ein Pferd bereitgestellt wäre. Sie fragte nach Philipp und erfuhr, daß die wenigsten mit seinem Namen etwas anfangen konnten; als sie die Frage nach dem Verbleib des Truchseß stellte, wurde ihr
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