Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
ist vollkommen egal«, fuhr der Mann fort. »Hauptsache, es rinnt und man kann dabei zusehen, ohne selbst etwas abzubekommen.«
Philipp drehte sich wieder um; der Mann hatte eine helle Gesichtshaut und vom Wein gerötete Augen, aber er lächelte höflich und verbeugte sich leicht, als er Philipp jetzt ansah. Das Lächeln schob ein Netz feiner Falten in das spitze Gesicht und machte es fröhlich. Die Verbeugung brachte ihn jedoch aus dem Gleichgewicht, und er stolperte und stieß gegen einen der Marktgänger. Der Angerempelte rief wütend: »Paß auf, wo du hintrittst, du besoffenes Schwein!« und stieß den Betrunkenen grob zu Boden; Philipp streckte einen Arm aus und half dem Mann auf.
Der Mann winkte mit dem freien Arm eine Entschuldigung in die vorbeidrängenden Menschen und stellte sich an Philipps Seite. Mit betrunkener Würde klopfte er sich den Staub aus den Kleidern.
»Ich schätze, Euch ist das Gleichgewicht ein wenig abhanden gekommen«, bemerkte Philipp.
Der Mann nickte. »Danke vielmals«, sagte er höflich.
»Ihr seid nicht von hier.«
Der Mann schüttelte den Kopf und deutete mit vagen Bewegungen nach Westen. Bei all dem verließ das Lächeln sein Gesicht nicht, und seine Augen schienen Philipp hinter dem Schleier der Betrunkenheit hervor freundlich zu mustern.
»Und ich bin nicht nüchtern«, stellte er fest. »Ich hätte mehr Wasser in den Wein gießen sollen.« Er lachte. »Aber es gibt Gelegenheiten, an denen man nicht schnell genug betrunken werden kann.«
Er drehte sich um, wobei er wieder aus dem Gleichgewicht geriet, und versuchte, vor den stehengebliebenen Marktbesuchern eine beschwichtigende Geste zu vollführen.
»Verzeihung«, sagte er laut. »Es geht vorüber. Ich habe nur zu wenig Wasser in den Wein getan. Nichts Schlimmes. Es geht vorüber.« Den letzten Satz schien er eher zu sich selbst zu sprechen, und sein Gesicht verlor das Lächeln.
Es wurde Philipp bewußt, daß sie sich in einem kleinen Kreis der Aufmerksamkeit befanden, wie er sich vor zwei Tagen um den Propheten gebildet hatte. »Am besten, Ihr laßt es in einer ruhigen Ecke vorübergehen«, sagte er zu dem Betrunkenen. Er nickte ihm zu und wandte sich zum Gehen.
»Ihr wart sehr freundlich«, sagte der Betrunkene. »Ich möchte Euch nochmals danken für Euer Mitgefühl.«
Philipp blieb gegen seinen Willen stehen. »Schlaft lieber Euren Rausch aus«, sagte er. »Warum geht Ihr nicht zum Tor hinaus und sucht Euch ein schattiges Plätzchen unter einem Baum, wo niemand auf Euch treten kann?«
»Ich halte Euch auf«, sagte der Betrunkene. »Entschuldigt; ich wollte Euch nicht lästig fallen.« Er trat zurück und lächelte scheu. »Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag.«
Philipp holte Atem, um zu sagen, daß er nicht unhöflich sein wolle, aber etwas Dringendes zu erledigen habe; doch er schwieg. Er wußte, der Betrunkene würde es als Ausrede auffassen. Er würde keinen Augenblick lang glauben, daß Philipp von etwas anderem bewegt wurde als vonAbscheu gegenüber seiner Person. Philipp wandte sich endgültig zum Gehen. Er wünschte sich, er wäre souveräner mit der Situation umgegangen. Noch während er davonschritt, fragte er sich, weshalb es ihm ein schlechtes Gefühl bereitete, den Mann verletzt zu haben; er war nur ein Fremder, den er nicht kannte, am hellichten Tag betrunken, und es war nicht anzunehmen, daß er ihn wiedersehen würde. Vielleicht war es nur seine scheue, höfliche Art und sein Lächeln. Er drehte sich um. Die Menge hatte den Betrunkenen bereits verschluckt.
Auf dem Weg zum »Kaiserelefanten« wurde Philipp mehrfach aufgehalten: von den Angeboten mancher Händler, zu deren Ständen er trat, von Knäueln von Menschen, die sich an anderen Ständen zusammenballten; von einer Gruppe Jongleure, die er aus sicherem Abstand beobachtete und Zeuge nicht nur ihrer Darbietungen, sondern auch der Kunststücke von drei Beutelschneidern wurde, die geschickt zusammenarbeiteten und einige der Gaffer um ihre Börsen erleichterten. Daß seine Gedanken sich erneut um den Vorfall mit dem Propheten drehten, merkte er erst, als er einen Mann in eine Lücke treten und theatralisch seinen Kapuzenmantel abwerfen sah. Er erwartete eine neue apokalyptische Vision und die Explosion von Gewalt hinterher, doch nichts geschah. Der Mann faltete den Mantel unter dem Arm zusammen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schritt weiter. Als aus einer anderen Richtung wütendes Gebrüll zu vernehmen war, fuhr er herum.
Weitere Kostenlose Bücher