Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
dieser Stufe verharrte, bis Agnes’ Geist sich auf eine andere Wahrnehmung zu konzentrieren begann.
Es war kühl in der Nacht im Freien, und Agnes’ Kittel war vor Furcht naßgeschwitzt. Sie begann zu frösteln, dann zu frieren. Sie konnte sich am Fuß des Pflocks zusammenkauern und die Beine an den Körper ziehen, aber die Kette erlaubte ihr nicht, die Arme vor den Oberkörper zu pressen, und so gelang es ihr nicht, sich selbst zu wärmen. Sie war Kälte gewöhnt: das Arbeiten bei Regen und Schnee auf den Feldern, in nichts als den Kittel gehüllt oder ein umgedrehtes Schaffell, wenn das Wetter unerträglich war, barfuß in Schneepfützen stehend und die kalte Erde mit bloßen Händen aufbrechend. Aber auf dem Feld konntesie sich bewegen, mußte sie sich bewegen, und wenn die Kälte auch biß, konnte sie sich doch durch das kreisende warme Blut in ihren Adern davor schützen. Am Pflock schien ihr Blut nicht zu kreisen, und die Kälte fraß sich in ihre Knochen. Ihre Füße waren als erstes taub. Den Füßen folgten die gefesselten Hände. Zuletzt schien ihr gesamter Körper zu erstarren, bis die Kälte so groß war, daß sie Schmerz bereitete und ihr auch die kleinen Schlafpausen unmöglich machte.
Sie saß gegen den Pflock gelehnt und starrte blind in die Finsternis. Sie hatte aufgehört zu weinen; sie brauchte ihre Kraft nötiger, als sie in Tränen zu vergeuden.
Es gab nur eine heiße Stelle an ihrem Leib: im Inneren ihres Mundes, wo die Klammer ihren Gaumen und ihre Zunge wundscheuerte. Die Klammer war nicht so fest, daß ihre Zunge tatsächlich eingeklemmt gewesen wäre; dazu war der Muskel zu beweglich. Aber sie war weit genug nach hinten geschoben, so daß sie die Zunge nicht daraus befreien konnte. So lange sie genügend Speichel hergestellt hatte, war die Wunde nicht so schlimm gewesen. Ihr Mund bildete von allein eine feuchte Schutzschicht zwischen der empfindlichen Haut und den groben Metallteilen, und der Speichel beruhigte die Stellen, die aufgerissen worden waren, als der Schmied den Knebel angebracht hatte. Aber die Spange, an der die Klammer saß, ragte von außen in ihren Mund hinein, und sie konnte die Lippen nicht schließen. Früh in der Nacht war ihre Mundhöhle bereits vollkommen ausgetrocknet, während der Speichel, der in ihren Wangentaschen hergestellt wurde, völlig nutzlos aus ihren Mundwinkeln tropfte. Fast am unerträglichsten aber war der Schmerz in ihrem Nacken, der von der unnatürlich aufrechten Haltung hervorgerufen wurde, in welche der Knebel ihren Kopf zwang. Das Ziehen wanderte ihren Nacken hinunter in die Schultern, die stachen, als würde jemand mit einer stumpfen Nadel in ihnen bohren, zwischen ihre Schulterblätter, bis ihr gesamter Rücken so sehr spannte, daß selbst das Atmen schmerzhaft war. Mit fortlaufender Nacht sandte der Schmerz Fühler in ihren Kopf selbst hinauf, bis sich zwei Nester an der Stelle gebildet hatten, wo der Nacken in den Kopf überging und dort dröhnend pochten; die Kopfschmerzen ließen ihre Augen noch mehr zuschwellen, als ihre Tränen es bereits getan hatten.
Kälte und Schmerz brachten den Morgen heran, der sich mit einem fahlen Band am östlichen Himmel ankündigte und die Geräusche der Nacht durch das Singen der Vögel ablöste. Agnes zitterte jetzt unablässig in ihrem feuchten Kittel. Das Kommen des Morgens mit seinem Hauch noch stärkerer Kälte, aber auch seinem Versprechen eines neuen Anfangs löste eine plötzliche Gefühlswallung in Agnes aus. Sie wußte, daß ihr noch zwei weitere Nächte und drei ganze Tage bevorstanden. Verzweifelt wünschte sie sich, daß sie sterben könnte. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, daß der Priester Gott bereits angerufen hatte, sie zu vernichten. Sie war noch nicht nahe genug an die wirkliche Todesangst herangekommen, als daß sie vor diesem Gedanken zurückgezuckt wäre, und sie hatte sich nicht klargemacht, daß der Tod das Ende ihrer Existenz bedeutete. Im Moment sehnte sie sich ausschließlich nach dem Ende ihres Martyriums.
Die Menschen im Dorf erwachten, verließen ihre Häuser und gingen auf die Felder, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Sie schlichen um sie herum, scheue Seitenblicke werfend. Sie dachten nicht weit genug, um sich darüber zuwundern, daß Gott, wenn er die Absicht gehabt hätte, Agnes zu töten (und damit ihre Schuld zu beweisen), gezögert hatte, sie bereits in der ersten Nacht zu vernichten; wie sie auch nicht darüber nachdachten, warum es überhaupt nötig war, Agnes
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