Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
werden, wenn ihre Schuld erwiesen ist; und wenn auch ihr und ich es alle wissen, so muß es doch vor dem Gesetz bewiesen werden. Es braucht zwei Zeugen, die ihre Schuld beurkunden können. Ich selbst kann nicht als Zeuge auftreten, da ich der Ankläger sein werde. Sonst hat aber niemand ihre Rede gehört.«
»Was sollen wir tun?«
»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte der Priester schlau. »Der heilige Bernhard hat sie uns aufgezeigt, und ein Konzil hat sie als rechtmäßig erklärt. Wir werden den Herrn selbst urteilen lassen.«
»Ein Gottesurteil.« Den Dörflern liefen Schauer über den Rücken. Zu denken, daß der Herr selbst in ihre Mitte herabsteigen würde, um über die Schuld ihrer Nachbarin Agnes zu richten.
Der Älteste machte ein zweifelndes Gesicht. Er war schon ein- oder zweimal in seinem Leben in der Stadt gewesen und hatte daher einen weiteren Horizont als die anderen. Er hatte Dinge gehört und sich gemerkt.
»Unser höchster Herr, der allergnädigste Herr Kaiser, hat Gottesurteile verboten«, sagte er zaghaft.
»Ha!« schrie der Priester und sprang geradezu auf und ab vor Zorn. »Weil er selbst ein Ketzer ist, darum! Er stehtunter dem Kirchenbann. Er ist nicht euer höchster Herr; er ist nur ein Satansdiener. Euer höchster Herr ist die Kirche, und die Kirche sagt: Gott soll richten!«
»Ja, sie soll dem Gottesgericht übergeben werden!« schrien die Dörfler.
»Stellt einen Pflock in der Mitte der Straße auf!« rief der Priester.
»Laßt sie uns dort anketten und drei Tage und drei Nächte am Pflock stehen lassen. Niemand darf sich ihr nähern außer meiner Person, und niemand darf ihr zu essen geben; Wasser wird sie zweimal am Tag von mir erhalten. Und damit ihre ketzerischen Reden nicht das Dorf vergiften, werden wir ihre Zunge fesseln! Wenn der Herr sie nach diesen drei Tagen und drei Nächten am Leben läßt, dann soll sie ungeschoren das Dorf verlassen und niemals wieder hierher zurückkommen.«
»So sei es«, sagte der Dorfälteste.
»Tochter Satans«, sagte der Priester zu Agnes, die mit entsetzten Augen den Reden zugehört hatte und sich nun dem Priester zuwandte, wie ein Hase sich dem Wolf stellt, »du wirst den restlichen Tag in deinem Haus verbringen. Weder dein Mann noch deine Kinder dürfen zu dir sprechen. Zwei Männer werden vor dem Haus Wache halten, damit der Teufel dich nicht holen kann, und ich werde ein Kreuz auf die Tür zeichnen, damit alle Dämonen abgeschreckt werden, dir zu Hilfe zu eilen. Heute bei Sonnenuntergang wird das Gottesurteil beginnen.«
Die Richter nickten und machten Anstalten aufzustehen. Einer jedoch fragte nachdenklich: »Und was ist, wenn sie recht hat? Wenn die Welt wirklich untergeht?«
Der Priester ballte die Fäuste, aber dann sagte er ruhig: »Glaubt ihr, wenn die Wiederkunft des Herrn bevorstünde, daß die Heilige Kirche euch nicht an der Hand nehmen und in die ewige Seligkeit führen würde? Glaubt ihr, sie ließe euch allein, ohne Gelegenheit, eure Sünden zu bereuen, bevor der Herr sein Gericht beginnt? Glaubt ihr vielleicht, die Kirche würde es euch nicht sagen , wenn dieser Tag kommt? Oder glaubt ihr gar, sie weiß es nicht?« Die Altesten schüttelten betreten die Köpfe und traten auseinander, ohne noch einmal zu widersprechen; der Ring der Zuschauer löste sich mit ihnen auf. Agnes ging in Begleitung der Männer, die als Wache ausersehen waren, zurück zu ihrem Haus. Wenn der Wirbel, der in ihrem Kopf kreiste und jeden klaren Gedanken verhinderte, schwächer gewesen wäre, hätte sie den Abstand bemerkt, den die beiden zu ihr hielten: Sie hatten sie in ihrer Mitte, aber sie waren auf mehr als Armeslänge von ihr entfernt, als hätten sie Angst, ihre Schande könne sie anstecken. Gestern hatten sie noch gemeinsam auf den Feldern gearbeitet.
Der Priester schritt auf den Mann zu, der zuweilen Schmiedearbeiten ausführte, und erklärte ihm, wie er die Fessel für Agnes’ Zunge anfertigen müsse.
Es dauerte eine Weile, bis der Gelegenheitsschmied den eisernen Knebel fertig hatte; seine Erfahrung darin, Instrumente zu schmieden, die zum Schaden der Menschen eingesetzt werden können, war gleich Null, und trotz der eingehenden Beschreibung des Priesters bedurfte es mehrerer Anfänge. Mit seinem Ergebnis war er nun einigermaßen zufrieden. Seine Verdrossenheit darüber, daß für den Knebel der größte Teil der mühsam gesammelten Eisenvorräte verbraucht wurde, legte sich allerdings nicht. In der Zwischenzeit, ungesehen vom Schmied,
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