Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Römer auslieferten? Es gibt größere Wichtigkeiten als dieses eine Weib , dachte er, größere Bestimmungen und vor allem größeres Geschehen als das Leiden dieses dumpfen, unwichtigen Sandkorns von einem Menschenkind. Aber hatten das die Männer nicht auch gedacht, die den geschundenen Leib des Erlösers an das Kreuz nagelten? Er goß den Eimer mit einem Schwung in Agnes’ Gesicht und lief wie von Furien gehetzt davon; hinter sich hörte er das Keuchen und Gurgeln, mit dem die Ketzerin versuchte, etwas von dem Wasser in dem Mund zu bekommen, damit der grausame Durst gestillt werde.
Die wenige Flüssigkeit, die Agnes in die Mundhöhle gelaufen war, weckte nur den Bedarf nach mehr. In ihren Handflächen, die sie bittend erhoben hatte, war ein kleiner Schluck gefangen; mit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie er nutzlos zwischen ihren Fingern versickerte. Schließlich sank sie resigniert in sich zusammen. Sie saß in der Pfütze, die sich um sie herum gebildet hatte, und weinte mit rauhen, trockenen Lauten. Das Weinen hatte etwas Gutes: Es erschöpfte sie so sehr, daß sie zuletzt einschlief, den Schmerzen und dem Durst zum Trotz. Die Sonne schien mittlerweile auf sie herab und hatte die Kälte vertrieben, und so zogen ihr überforderter Geist und ihr zerschundener Körper einander in ihrer verzweifelten Umklammerung hinab, in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der eher eine Ohnmacht war und in dem ihr die Gnade zuteil wurde, kein Leid mehr zu verspüren.
Als sie erwachte, benötigte sie einige Minuten, um zu realisieren, wo sie war. Sie hatte keine Idee, wieviel Zeit seit dem Besuch des Priesters vergangen sein mochte. Die Sonne schien von einem Punkt in der Nähe des Zenits. Sie blinzelte hinauf und fühlte den Schwindel, der sie ergriff. Sie war schutzlos in der Sonne gelegen, aber der Schwindel kam nicht von daher: Sie hatte auch schutzlos in der Sonne gearbeitet, und ihr Körper war daran gewöhnt. Der Schwindel, den sie nun verspürte, war leicht, er schien in ihren Eingeweiden statt in ihrem Kopf zu kreisen, und er drehte sich, bis sich ein Zentrum herauszubilden schien. Das Zentrum lag in ihrem Magen. Sie hatte seit ihrer Verurteilung gestern abend nichts gegessen, und den ganzen Tag davor ebensowenig. Der Hunger wühlte in ihr. Bis jetzt hatte sie ihn nicht verspürt; vielleicht hatte ihn der Durst aufgeweckt. Sie beschäftigte sich mit dem Wühlen in ihrenDärmen, weil es ein Schmerz war, den sie kannte und den sie zu bekämpfen wußte; es hatte in der Vergangenheit genügend Jahre gegeben, in denen der Winter länger gedauert hatte oder der Herbst früher gekommen war, so daß die Vorräte nicht ausreichten und sie in den letzten Wochen des Winters, bevor die ersten Kräuter und Beeren erschienen, gehungert hatten. Der Hunger war ihr fast willkommen, er war wie ein alter Gefährte, den man in der Fremde trifft, und den man zwar niemals geliebt hat, aber der eine starke Verbindung zu früheren, glücklicheren Zeiten herstellt.
Schließlich tauchte die Gestalt des Priesters auf. Er stand zwischen den Häusern und schien sie von der Ferne zu betrachten. Sie musterte seine Gestalt mit schmerzenden Augen. So wie sie zu Anfang keinen Haß gegen ihn verspürt hatte, so spürte sie auch jetzt keinen; das einzige Gefühl, das sie ihm nach wie vor entgegenbrachte, war eine vage Ehrfurcht. Die Kutte des Priesters schlug im Wind, und sein Skapulier bewegte sich um seine Schultern, als wären dort Flügel, mit denen er schlug, ohne jemals fliegen zu können. Plötzlich drehte er sich um und schritt davon. Agnes wußte, daß die Kapelle mit dem kleinen Haus daneben kurz hinter den nächsten Häusern lag; als der Priester nicht abbog, sondern weiter auf der Straße ausschritt, bis ihn eine Ecke verdeckte, war ihr klar, daß auch er das Dorf verließ.
Eine Weile später wurde ihr bewußt, daß sie vollkommen allein war. Der Wind, der mit heftigen Stößen durch das Dorf fuhr und das trübe Wetter mit sich brachte, das Philipp einen Tag später zu Radolf Vacillarius begleiten sollte, trieb den Straßenstaub vor sich her. Agnes hörte das Prasseln, mit dem die Körnchen gegen die Dächer der Häuserprallten; sie hörte auch das Rascheln der trockenen Strohbüschel, die hier und da um die Ecken gewälzt wurden, und das Wispern der Garben, mit denen die Dächer abgedeckt waren. Sie hörte das laute Schnaufen eines Schweins und das hohe Trällern der Lerchen, die in der Luft über den Feldern auf und ab fuhren. Sie hörte
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