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Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Titel: Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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ungesehen von den Dörflern, die nach dem Ende des Prozesses doch noch aufdie Felder ausgeschwärmt waren, und natürlich ungesehen von Agnes, die in ihrem Haus hockte, zu betäubt, um auch nur weinen zu können, suchte Kaplan Thomas das Dorf auf. Der Priester, der ihn nicht nur für einen Bruder im Glauben, sondern auch im Geiste hielt, unterbreitete ihm das Geschehnis und erläuterte ihm den Sinn des frisch in die Erde geschlagenen Pflocks am Straßenrand. Der Kaplan machte sich daraufhin wieder auf den langen Rückweg, um seinem Herrn zu berichten und diesen dazu zu bewegen, etwas für die seines Erachtens nach vollkommen unschuldige Bäuerin zu tun – wie sich herausstellen sollte, nicht mit dem gewünschten Ergebnis. Gegen Abend versammelten sich die Dörfler um Agnes’ Haus; früher als sonst waren sie von den Feldern zurückgekehrt, mit dem sicheren Instinkt, der auch eine Schar von Raben rechtzeitig an die Stelle führt, an der ein Kalb stirbt. Diesmal war Agnes’ Mann unter ihnen; aber Agnes sah ihn nicht, als sie aus dem Haus geführt und zu dem Pflock geleitet wurde, der nicht allzuweit entfernt aus dem Boden ragte. Der Dorfälteste fesselte ihre Hände mit einem starken Lederband und befestigte dieses wiederum mit einer kurzen Kette an einem Ring, der in den Pflock getrieben worden war. Die Kette war lang genug, daß Agnes sich mit dem Rücken gegen den Pflock setzen konnte; zum Liegen reichte sie nicht.
    Nachdem dies getan war, ließ der Priester den Knebel bringen. Auf den ersten Blick sah er aus wie der plumpe Entwurf zu einer Kaiserkrone. Ein rundgebogenes Metallband trug einen hohen Bügel, der an zwei gegenüberliegenden Seiten an dem Band befestigt war. Der eine Trick des Knebels waren die Scharniere, die es erlaubten, den Bügel und das Band so zu öffnen, daß der Knebel eng anden Kopf angepaßt werden konnte. Der zweite Trick war die Klammer, die in das Rund des Metallbandes hineinragte. Da niemand wußte, wie der Knebel zu bedienen war, blieb es dem Schmied vorbehalten, ihn Agnes aufzusetzen. Er öffnete die Verschlüsse, preßte Agnes die Kinnbacken zusammen, bis sie den Mund auftat, und schob dann die Spange hinein, an deren Ende die Klammer saß. Danach griff er durch die Spange, packte ihre Zunge und zog sie durch die ringförmige Öffnung der Klammern, rammte die Spange weiter nach hinten, so daß Agnes ihre Zunge nicht mehr herausziehen konnte, und während ihr Tränen des Schmerzes aus den Augen und ein dünner Blutfaden von dem durchtrennten Zungenbändchen aus dem Mund lief (von dem sich der Priester mit einem gemurmelten Gebet abwandte – die Kirche scheut das Blut), drehte der Schmied die Zwinge zusammen, die ihre Zunge in den eisernen Griff der Klammer nahm und nicht mehr losließ. Zuletzt schloß er die Rückseite des Metallbands um ihren Hinterkopf, zog den Bügel über ihren Scheitel und befestigte ihn am Verschluß des Metallbands.
    Der Priester forderte die Dorfgemeinde auf niederzuknien und beschwor Gottes Gnade auf die arme Sünderin herab und betete darum, daß ihr Leib vernichtet und ihre Seele befreit werden möge, wenn sie sich der ihr zur Last gelegten Verbrechen schuldig gemacht habe. Wenn nicht, Herr, dann verzeih uns unseren Eifer, mit dem wir Dir gedient haben und mit dem wir einer Unschuldigen Schmerz zugefügt haben, und zeige uns Deine Gnade und Deine Allmacht daran, wie Du sie am Leben lassest. Amen.
    Danach begann Agnes’ Nacht am Schandpflock.
    Ein Mensch erträgt nur so und soviel Schrecken, dann stumpft sein Bewußtsein ab. Wenn das geschieht, wird der Geist wieder aufnahmefähig für die anderen Wahrnehmungen, die der Körper macht, bis der Schrecken eine höhere Dimension erreicht. In Agnes’ Fall war dieses Zwischenspiel, diese Atempause zwischen dem einen Schrecken und dem folgenden, hauptsächlich eine Wahrnehmung von Kälte und Schmerz. Nach einer Weile trat die Angst vor den Kreaturen der Nacht, die um sie herumschlichen, in den Hintergrund. Keines der Wesen kam nahe genug an sie heran, daß sie tatsächlich in Gefahr gewesen wäre, und keines der Wesen war etwas anderes als ein Tier, das sie am Tage furchtlos mit der Spitzhacke erschlagen hätte. Aber es war nicht die Feststellung, daß die Kreaturen ihr nichts zuleide taten, die ihre Angst abklingen ließ, denn sie rechnete ständig damit, daß sie jeden Moment über sie herfallen und ihr das Fleisch in Fetzen aus dem Körper reißen würden; es war die Tatsache, daß die Angst so lange auf

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