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Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Titel: Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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unter freiem Himmel anzupflocken und ihr die Maske aufzusetzen. Sie hatten gelernt, daß Gott alles sieht und alles weiß und jederzeit in das Leben der Menschen eingreifen kann, wenn Ihn daran etwas stört, aber ihr Geist war nicht frei genug, sich Gedanken zu machen, weshalb Gott dann nicht Agnes einfach ohne großes Aufhebens vernichtet hatte, als Er ihrer Häresie ansichtig wurde. Daß es geschehen würde, darüber bestand in keinem der Dörfler, der an Agnes vorüber zur Feldarbeit ging, der geringste Zweifel. Es mochte Heilige geben, die ein Gottesurteil überstanden und damit ihre Unschuld bewiesen hatten – aber bei Heiligen geschah der Weg durch das Leid, damit Gott sie vor den Augen der Menschen erhöhte. Agnes war keine Heilige, demzufolge mußte sie nicht erhöht werden, und demzufolge würde sie auch das Gottesgericht nicht überstehen. Gewöhnliche Menschen waren entweder unschuldig, dann wurden sie nicht erst verurteilt, oder schuldig, und dann überlebten sie Gottes Strafgericht nicht. Im Bewußtsein all dessen hatten sie gut geschlafen.
    Agnes folgte dem Gehen der Menschen stieren Blicks. Der Steinwurf traf sie, ohne sie wirklich zu schmerzen. Das nächste Gefühl erwachte erst, als sie den Priester mit einem hölzernen Eimer auf sich zukommen sah. Sie erinnerte sich an seine Anweisungen, wer mit ihr Umgang pflegen durfte, und erinnerte sich daran, zu welchen Anlässen der Priester dies tun würde. Schlagartig erwachte in ihr ein überwältigender, schmerzhafter, brennender Durst; oderbesser: Das Gespür für diesen Durst erwachte, denn der Durst selbst war schon die halbe Nacht dagewesen, ohne daß sie sich seiner bewußt geworden wäre. Wie mit der Angst kann der Geist des Menschen auch nur eine bestimmte Dimension von Schmerzen verarbeiten, und wenn diese Grenze überschritten ist, selektiert die Wahrnehmung bestimmte Dinge aus. Vielleicht selektiert sie die schlimmsten Dinge aus; vielleicht liegt darin eine Art Gnade. Für Agnes jedenfalls war es eine Gnade, daß sie den Durst nicht verspürt hatte: Denn was sie jetzt verspürte, war ein so entsetzlicher, grausamer Bedarf an Tränkung, daß es scheinbar endlos dauerte, bis der Priester sich ihr auch nur genähert hatte. Sie krächzte und fügte dem Feuer des Durstes das Feuer des Schmerzes in ihrem Mund hinzu. Sie versuchte sich aufzurappeln, um schneller an das Wasser zu kommen, das in dem hölzernen Eimer schwappte. Wäre der Priester sich der blinden Not bewußt gewesen, die von ihr Besitz ergriffen hatte, wäre es ihm ein einfaches gewesen, ihren Untergang zu beschleunigen. Er hätte das Wasser nur vor ihr auf den Boden zu gießen brauchen; vermutlich wäre sie von diesem Anblick verrückt geworden. Agnes schaffte es nur, sich aufrecht auf den Boden zu knien; sie streckte die Hände aus, bis sie von der Kette zurückgehalten wurden, und wimmerte dem hölzernen Eimer entgegen.
    Der Priester verzog bei ihrem Anblick das Gesicht. Er trat näher heran, überzeugt, daß der üble Geruch der Hölle und eines geschundenen menschlichen Leibs von ihr ausdünsten würde, zusammen mit den Exkrementen, in denen sie sich gewälzt hatte. Er war erstaunt, daß er nichts dergleichen wahrnahm; alles, was er roch, war der schwache saure Geruch der Panik, der sich die Nacht über in ihreHaut, ihr Haar und ihren Kittel eingeschwitzt hatte. Einige Worte kamen ihm in den Sinn, die er an sie hätte richten können, aber er schwieg. Er sah auf sie hinunter, auf die halbgeschlossenen, geschwollenen Augen, das verkrustete Gesicht und das getrocknete Blut und sah mit Grausen, daß sich ein zäher Speichelfaden von ihrem Kinn zu ihrem Schlüsselbein hinabzog. Mein Werk , dachte er mit unbestimmtem Schuldbewußtsein. Mein Werk. Sie stöhnte und reckte die Hände flehentlich nach ihm aus.
    »Heb den Kopf, Ketzerin«, herrschte er sie voller Ekel an, und das schlechte Gewissen, das sich in ihm gemeldet hatte, verlieh seinen Worten noch eine gesonderte Portion Grobheit. Agnes legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund so weit, wie ihre aufgerissenen Lippen und ihre verkrampften Kiefer dies erlaubten. Der Priester hob den Eimer. Er wußte, er hätte den Inhalt langsam in ihrem Mund laufen lassen sollen, mit vielen Pausen, damit sie nicht daran erstickte oder sich erbrach, aber plötzlich hielt er den Anblick des Leids nicht mehr aus. Mein Werk , dachte er nochmals, das Werk der Barmherzigkeit und Gottesfurcht. Was hatten die Männer gedacht, die den Heiland an die

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