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Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser

Titel: Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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zwang,
    Das Dorf lag unter dem bleiernen Himmel wie ein Friedhof, die ergrauten Dächer geduckt gegen den scharfen Ostwind, der den Winter wieder zurückzubringen schien, reglos im schwindenden Tageslicht. Die Männer und Frauen, die verloren am jenseitigen Ende des Dorfes auf der Straße standen, schienen ebensowenig hierherzugehören wie die Besucher eines Totenackers zwischen die Gruften. Hinter den erbärmlichen Häusern ragte der Turm des Herrensitzes auf: wie ein Kirchturm, der sich über Grabstätten erhebt. Philipp zügelte sein Pferd und ließ es im Schritt weitergehen. Die meisten der Dorfbewohner wandten sich um, als sie ihn kommen hörten, aber keiner verließ seinen Platz.
    Die Häuser waren links und rechts der schmalen Straße verstreut, ohne ein Zentrum zu besitzen; das Dorf war nicht mehr als eine Spur zwischen den Feldern, die auf den Herrensitz zuführte. Die Bauwerke waren niedrige Hütten, deren steile Dächer an allen Seiten bis fast zum Boden führten, fensterlos, schmucklos, die Grassoden der Dächer so grau wie das Flechtwerk zwischen den senkrechten Pfosten, welches die Häuserwände bildete, und so grau wie der Schlick, mit dem das Flechtwerk verschmiert war. Ein wenig zurückgesetzt von der Straße duckte sich ein Lagergebäude in das hohe Gras, der massiveren Holzbauweise nach ein Werk des Grundherrn, in dem seine Hintersassen seinen Anteil an der Ernte einlagerten. Das grobe hölzerne Tor war mit einem Riegel und einem Schloß versehen. Philipp erkannte Zeichen gegen Unheil und den bösen Blick: In halber Höhe hing ein totes Käuzchen am Tor, mit ausgebreiteten Schwingen angenagelt wie eine Karikatur des Gekreuzigten, und auf der Front zeichnete sich schwach ein Kruzifix aus Ruß auf dem rauhen, silbergrau verwitterten Holz ab. Der Wind fuhr mit einzelnen Stößendurch die Doppelreihe aus abweisenden, abergläubischen, furchterstarrten Katen wie stockender Atem. Es gab jedoch nicht nur den üblichen Aberglauben; die Angst im Dorf besaß ein eindeutiges Zentrum. Vertrocknete Knoblauchketten, bleich gewordene Sträuße vom Mispelstrauch über den Eingangstüren, Hühnereier in Wandnischen und in den Gärten: Fenchel, Farn, Johanneskraut – Schutzmaßnahmen gegen eine Hexe.
    Die Dorfbewohner hatten sich vor einer der Katen versammelt; sie schienen auf den ersten Blick nur aus alten Leuten und Kindern zu bestehen, erschreckend wenigen Kindern. Dann entpuppten sich die alten Leute als die Eltern der Kinder, die meisten in Philipps Alter oder darunter, aber mit vorzeitig gealterten Gesichtern, krummen Rücken und schwierigen, zerschundenen Händen und Füßen, alte Leute tatsächlich an Körper und Geist, die zwei Drittel ihres Lebens bereits hinter sich hatten und vom letzten Drittel nur Mühsal und Plage erwarten durften. Die Kinder waren erstaunlich ernst und still; und wenn auch in ihren Gesichtern noch nichts von dem vorzeitigen Alter zu sehen war, das die tägliche Mühsal darin eingraben würde, so erweckten ihre verschlossenen Züge doch den Eindruck, als wäre es ihnen bereits vollkommen klar, welchem Geschick sie entgegengingen. Plötzlich wußte Philipp, was sich hier zutrug. In dem Haus war jemand gestorben, und die Dorfbewohner warteten darauf, daß ihr Grundherr sich aus der Hinterlassenschaft nahm, was ihm gefiel, bevor auch sie sich ihr Teil holen konnten.
    Ein Mann stand direkt neben der Tür; er hatte die Arme verschränkt, und als einziger starrte er nicht in das dunkle Innere des Hauses hinein, sondern die Straße hinunter, als wäre ihm, was er dort sah, wichtiger als die Vorgänge imHaus. Vielleicht war es das auch; vielleicht sah er dort die Tote, die im Haus auf dem Bett lag, als sie noch am Leben war und an ihrem Hochzeitstag über die Straße auf ihn zukam, um ihn zum einzigen Tag in ihrem weiteren Leben zu führen, der nicht von Arbeit und Buckelei bestimmt war. Philipp seufzte; so gewöhnlich der Vorgang war, so sehr berührte er ihn jedesmal wieder aufs neue. Eine junge Frau wurde schwanger, arbeitete bis zuletzt auf dem Feld und gebar dort zwischen Sämlingen, Strohgarben oder auf der nackten Scholle ein Kind; oder, wie in diesem Fall, brach zusammen, wurde nach Hause getragen und starb bei dem Versuch, das Kind auf die Welt zu bringen. Der Dorfälteste kam, vielleicht noch der Priester, der einen überflüssigen Satz murmelte, und spätestens am nächsten Tag der Grundherr, der über das Verderben eines seiner Besitztümer ungehalten war und nachsah, ob er in

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