Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
lächelnd. Philipp seufzte und zuckte mit den Schultern. Sie winkte ihm zu.
»Kommt doch etwas näher, damit wir uns nicht ständig zurufen müssen«, sagte sie. Philipp trottete folgsam über das feuchte Gras und blieb vor ihr stehen. Ihre Wangen waren frisch und leicht gerötet, und sie schien fröhlich zu sein; nur ihre Augen waren bekümmert. Sie sahen sich an. Plötzlich wußte er, daß sie etwas zu der letzten Nacht sagen wollte, und sie wußte, daß er es wußte. Sie sagte nichts, und es schien nicht nötig. Philipp war darüber erleichtert; er wollte die dunklen Gedanken, die ihn in Radolfs Kammer befallen hatten, nicht nochmals durchdenken, während die Morgensonne auf ihn herabschien und alles wirkte, als sei nichts Befremdliches vorgefallen. Doch Dionisia senkte den Kopf und zupfte nervös an ihrem Rock, und seine friedliche Stimmung verging und mit ihr das Einvernehmen, das er plötzlich gespürt hatte.
»Hat man Euch etwas zu essen gegeben?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte er. »Und ich habe eine Einladung zum Morgenmahl.«
»Von meinem Vater?«
Philipp nickte. Dionisia schien sich über seine Aussage zu freuen; sie lächelte ihn an. »Ich habe Euch gleich gesagt, er ist nur halb so schlimm, wie er tut.« Im Licht der gestrigen Nacht schien ihm diese Erklärung deplaziert.
»Habt Ihr noch gut geschlafen?« erkundigte er sich unwillkürlich und verfluchte sich gleich darauf, denn ihr Gesicht umwölkte sich.
»Ich habe geträumt«, sagte sie abwesend. »Es ist ein Traum, der von Zeit zu Zeit wiederkehrt. Wollt Ihr ihn hören?«
Philipp wußte, daß dem Menschen im Traum das gezeigt wird, woran er im Wachen zuletzt gedacht hat. Woran mochte Dionisia nach dem Anblick ihres Vaters gedacht haben? Er hatte das Gefühl, daß er es lieber nicht wissen wollte.
»Im Traum sitze ich an einem Tisch und warte darauf, daß das Essen ausgeteilt wird. Meine Mutter und mein Vater sitzen neben mir und noch ein weiterer Mann, der der Gast meines Vaters ist. Ich möchte mit meiner Mutter sprechen, aber sie hört mich nicht, da sie mit meinem Vater spricht. Sie sieht nur ihn an, und ich kann sie nicht dazu bewegen, mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Mein Vater sagt schließlich, daß kleine Mädchen bei Tisch zuschweigen haben. Ich kann mich erinnern, daß er dies tatsächlich immer sagte, wenn ich nicht stillsitzen wollte, aber er blinzelte mir dabei immer zu. Ich kann mich auch in meinem Traum stets daran erinnern, aber wenn ich versuche, in sein Gesicht zu sehen, ob er es ernst meint und wütend auf mich ist, gelingt es mir nicht: Eine Kerzenflamme brennt davor, und ich sehe nur seine Gestalt, niemals sein Antlitz. Schließlich wendet sich der zweite Mann mir zu und verspricht, mir zuzuhören. Sein Gesicht kann ich erkennen: Es ist blaß, hager und freundlich. Ich mag es, wenn er lächelt. Es ist jedesmal das gleiche Gesicht, und es kehrt immer wieder, obwohl ich es nicht kenne. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen will, denn mir scheint, als ob ich es aussprechen müßte, damit es mir auch klar wird. Aber ich kann es niemals aussprechen: Plötzlich bin ich völlig allein in dem Raum, der ein loderndes Flammenmeer ist, und ich erwache vor Entsetzen.«
Sie sah ihm ins Gesicht. Philipp verzog den Mund und suchte nach einer Antwort. Dionisia wandte entschlossen den Kopf ab und richtete ihren Blick auf den Eingang des donjon.
»Das ist mein Traum«, sagte sie kurz. »Jetzt habe ich zu arbeiten; Ihr entschuldigt mich, Philipp.«
Das Morgenmahl verlief schweigsam. Philipp schrieb es Radolfs schlechter Laune zu. Es zeigte sich jedoch, daß dieser die Zeit des Essens damit verbracht hatte nachzudenken. Nachdem die alte Frau den Tisch abgeräumt hatte und gefolgt von Dionisia in die Küche hinuntergetrottet war, lehnte er sich zurück und musterte Philipp aus halbgeschlossenen Augen. Seine Zunge fuhr zwischen seinenZähnen hin und her, während er mit den Fingern in der bereitgestellten Wasserschüssel eher rührte, anstatt sich zu waschen.
Schließlich sagte er: »Ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie du mir doch noch von Nutzen sein könntest.« Er räusperte sich. »Da es keine Dokumente mehr gibt, die meine Frau betreffen, fertigst du einfach alle Unterlagen neu an.« Philipp riß die Augen auf »Das ist eine große Aufgabe«, sagte er schließlich. »Es kann Wochen dauern. Ich bezweifle, daß mein Herr mich so lange freigibt.« »Dann kehrst du immer wieder zu ihm zurück und erledigst deine Aufgaben auf seinem
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