Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
versorgte und schließlich – immerhin mochte der treulose Pferdeknecht aufgrund der Fragen davongelaufen sein, die er ihm gestellt hatte – auch den anderen Tieren Heu vorlegte, ihre Flanken mit dem groben Striegel bearbeitete und die verflochtenen Mähnen und Schweife kämmte. Die Arbeit beruhigte ihn und gab ihm das Gefühl, die erste wertvolle Tätigkeit zu verrichten, seit er von zu Hause aufgebrochen war. Radolfs Pferd schien das schwergebaute Roß zu sein, mit zotteligem Fell um die starken Fesseln und einer breiten Brust; es ließ sich nur ungern von Philipp striegeln und versuchte ihn mehrmals zu treten, bis er von ihm abließ. Die beiden schlanker gebauten Tiere mit den zu Zöpfen geflochtenen Mähnen gehörten wohl Dionisia, und die unscheinbare, niedrig gebaute Mähre, unter deren Vorfahren zumindest ein Maultier gewesen sein mußte, war das Packpferd. Zuletzt verließ Philipp den Stall und sah sich im trüben Zwielicht des späten Nachmittags um. Als er die Gestalt Dionisias um die Ecke des donjons verschwinden sah, beschloß er, ihr zu folgen.
Er hatte den Friedhof bisher noch nicht betreten; näherkommend sah er, daß er aus nichts weiter als mehreren halb überwucherten Erdhügeln bestand. Zu einem der Hügel führte eine fast blanke Spur, und Philipp schloß daraus, daß es sich um das Grab von Dionisias Mutter handelte. Das Mädchen stand davor und hatte Philipp noch nicht gesehen. Philipp zählte sieben Erdhügel, sechs davon niedriger und kürzer als der siebte. Soweit zu den Fabeln des Pferdeknechts , dachte er, darunter liegen die Körper von sechs Kleinkindern, nicht von sieben. Zuletzt sah er die frisch aufgebrochene Stelle in einiger Entfernung zu den alten Gräbern, ein paar Schritte weit in Richtung des Waldsaumes, ein Fleck ausgerissenen Grases und blanker Erde, über den sich keinerlei Hügel erhob. Wenn es ein Grab war, dann keines, das in der Erinnerung der Burgbewohner bleiben sollte.
Philipp hustete höflich, und Dionisia drehte sich um. Sie hatte die Hände vor dem Körper verschränkt und hielt ein Sträußlein nasser Blumen darin: Wiesenblumen, die sie aus dem Obstgarten gepflückt haben mochte. Sie lächelte ihn an, und er lächelte zurück.
»Habt Ihr meinen Vater bereits gesprochen?« fragte sie. »Ich habe ihn bis jetzt noch nicht gefunden.«
»Vielleicht ist er ausgeritten.«
»Wenn er dabei nicht einen Packesel verwendet, muß er noch hier sein: Im Stall steht ein Streitroß, das mir das seine zu sein scheint.«
Dionisia schnupperte und lachte ihn an.
»Ihr scheint Euch sehr lange im Stall aufgehalten zu haben, um diese Tatsache festzustellen. Ihr habt den Geruch der Pferde angenommen.«
Philipp zupfte verlegen an seinem Wams.
»Ich habe den Pferdeknecht verjagt«, erklärte er schließlich. »Da mußte ich wohl oder übel seine Aufgabe übernehmen.«
»Verjagt?«
»Ich habe ihn so lange über seinen Aberglauben erzählen lassen, bis er sich zuletzt selbst davor zu fürchten begann.« Dionisia lachte auf
»Jedes zweite Wort von Euch ist ein Scherz«, sagte sie. Philipp fühlte sich nicht nach Spaßen, aber die Unruhe, die die Worte des Pferdeknechts geweckt hatten, war gewichen. Die sanfte Arbeit mit den Pferden war daran schuld; und das Lachen, das Dionisias Gesicht erhellte. Er wies auf das Grab.
»Eure Mutter, nehme ich an?«
Sie nickte und legte die Blumen auf den Erdhügel. Philipp sah, daß dort bereits ein verwelkter Strauß lag. Sie nahm ihn fort und trat ein paar Schritte beiseite, um ihn neben der Mauer der Kapelle zu Boden zu streuen. Dann faßte sie in eine Tasche ihres Kleides und tat etwas Erstaunliches: Sie legte ein Stück trockenen Gebäcks auf das Grab. Als sie sich aufrichtete, begegneten ihre Augen denen Philipps.
»Ich bringe ihr zu essen«, sagte sie. »Und Blumen. Nicht immer, nur wenn ich daran denke. Als sie bereits krank war, freute sie sich darüber.«
Philipp starrte sie an. Ihr Gesicht war völlig frei von Argwohn. Wenn sie es schon öfter getan hatte und der Pferdeknecht sie dabei beobachtet hatte, schien ihm dessen Aberglauben nicht mehr erstaunlich.
»Wie ist sie gestorben?« fragte er.
»Ich glaube, sie hat den Tod meines letzten Brüderchens nicht verkraftet«, sagte Dionisia nüchtern und wies auf denErdhügel, der dem Grab ihrer Mutter am nächsten lag. »Es dauerte jeweils sehr lange, bis sie schwanger wurde, und jedes der Kinder starb schon während der Geburt. Ich glaube, zuletzt verließ sie der Mut. Und sie war sehr
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