Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Dionisia einen kurzen Blick zu. Er wollte Radolf nicht verraten, daß sie mit ihm über Radolfs Dilemma gesprochen hatte. Langsam sagte er: »Es muß noch anderswo Unterlagen geben. Bei den Hochzeitsdokumenten beispielsweise; es hat doch sicherlich Zeugen und einen Priester bei Eurer Hochzeit gegeben.«
»Natürlich hat es das.«
»Vielleicht könnte ich dort einmal nachsehen.« Radolf starrte ihn so lange an, daß Philipp glaubte, er habe den Sinn seiner Worte nicht verstanden. Aber dann seufzte der Burgherr.
»Die Dokumente, die verbrannten, waren alle Originaldokumente, die irgendwo existierten. Ich hatte sie zusammengetragen – zum Teil gekauft, zum Teil entwendet, ich gebe es zu – um sie für den Tag bei mir aufzubewahren, an dem meinem Recht Genüge getan würde. Für den heutigen Tag. Es ist alles Asche.« »Seid Ihr da sicher?«
»Katharina und ich heirateten im Beisein zweier Mönche aus dem Kloster Sankt Peter. Dionisia wurde dort getauft. Sie besaßen alle Dokumente über beide Ereignisse. Ich wußte über ein paar Schwächen des Archivars Bescheid und konnte ihn überreden, sie mir zu geben. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.«
Philipp, der sich an den Archivar nur zu gut erinnern konnte, konnte sich nicht vorstellen, daß dieser freiwillig ein Dokument herausgegeben hätte. Außerdem wußte er um keine seiner Schwächen. Aber vielleicht war das die Stelle gewesen, an der Radolf den Hebel seiner Forderung angesetzt hatte: an einer Schwäche, die so geheim war, daß wirklich niemand davon erfahren durfte. Vom damaligenStandpunkt aus hatte Radolf mit mitleidloser Umsicht gehandelt; vom heutigen Standpunkt aus war er ein Narr gewesen. Alles an diesem Auftrag war Narretei.
»Aber Radolf, habt Ihr im Ernst geglaubt, ich würde mit ein paar dürren Daten glaubwürdige Urkunden anfertigen können?« stieß er heftig hervor. »Ich brauche die Originalunterlagen oder zumindest Abschriften davon.«
»Wozu denn? Da sie vernichtet sind, kann sie niemand mehr zu einem Vergleich heranziehen.«
»Wir wissen doch nur, daß die Dokumente aus dem Kloster vernichtet sind. Seid Ihr sicher, daß Eure Gegner nicht vielleicht noch Abschriften davon haben? Sie werden ihren Raub damals bestimmt mit allen möglichen Unterlagen abgesichert haben.«
»Unfug«, stieß Radolf barsch hervor.
»Kein Unfug. Ich habe Euch bereits geschildert, was passiert, wenn wir nicht mit größter Sorgfalt arbeiten.«
»Ach was! Arbeite mit den Daten, die ich dir aufgeschrieben habe, oder arbeite gar nicht. Wenn du nicht fähig bist, ein bißchen Phantasie aufzubringen, solltest du besser gehen. Ich werde auch alleine mit dem Gesindel fertig. Kriech zum Kardinal und sag ihm, daß du zu dumm für deine Aufgabe warst.«
»Dumm ist nur der, der sehenden Auges in sein Unglück rennt«, rief Philipp voller Zorn. Radolf reagierte nicht darauf. Er wandte sich ab und stieg ein paar Stufen empor. Sein Rücken wirkte verkrampft, aber er hielt nicht an. »Komm schon, Dionisia!« bellte er, ohne sich umzudrehen. Dionisia ging langsam an Philipp vorbei. Sie sah ihm stumm ins Gesicht, aber er glaubte in ihren Augen lesen zu können: Geh nicht. Bleib und hilf uns. Ohne sich zu beeilen, folgte sie Radolf ins Innere des Hauses hinein.
Philipp blieb draußen stehen, den nutzlosen Pergamentabriß in den Fingern. Er vermeinte nun zu verstehen, warum Radolf so lange gezögert hatte, seine Mitgift zurückzuholen, bis er es beinahe selbst vergessen hatte. Es lag nicht an irgendwelchen Rücksichtnahmen der Familie seiner Frau gegenüber, solange diese noch am Leben war. Dazu war seine Gier auf den Besitz zu offensichtlich. Doch er stand von vornherein auf verlorenem Posten. Und seiner Barschheit nach zu schließen, war es ihm bewußt. Er gab nur die hohle Vorstellung eines sinnlosen Stolzes, wie ein Eber, der, von den Hunden gegen eine Felswand gedrängt, eindrucksvolle Drohgebärden macht. Aber bis Philipp nicht selbst alle Möglichkeiten untersucht hatte, wollte er sich nicht geschlagen geben. Er war es seinem Herrn schuldig. Er war es seinem eigenen Stolz schuldig. Und Dionisias drängenden Augen.
Und vielleicht war er es auch, auf irgendeine geheimnisvolle, nicht ganz ergründbare Weise, Radolf schuldig. Oder seinem überraschenden Mitgefühl mit ihm. Es war Radolfs Gesichtsausdruck gewesen, der auf einmal Philipps Mitleid mit dem Burgherrn geweckt hatte, Radolfs Gesichtsausdruck, als Dionisia von den Mahlzeiten der Toten berichtet hatte. Es war
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